Winterende und Frühlingserwachen
Die Dialektik und Goethes Gedicht "Osterspaziergang"
Bisher habe ich die Aussage, dass Goethe die Dialektik in die Sprache eingebracht hat, nie wirklich nachvollziehen können. Ich habe mich allerdings auch nicht mit Goethe beschäftigt.
Andererseits ist mir das Gedicht "Osterspaziergang" von Johann Wolfgang von Goethe seit meiner Schulzeit im Gedächtnis haften geblieben, insbesondere die Naturbeschreibung im ersten Teil und die letzten beiden Zeilen sind fest in mein Gedächtsnis eingebrannt. Die ersten Zeilen mit der Beschreibung der Natur habe ich immer Ostern beim Spaziergang zitiert.
Die Dialektik lehrt uns, dass Bewegung, Veränderung immer das Ergebnis widerstrebender Kräfte ist. So werden in der Bewegungslehre der Physik die Kräfte, die an einem Körper angreifen, gegenübergestellt. Die Lösung dieser Gleichung beschreibt dann die Bewegung des Körpers. In dem Gedicht Osterspaziergang stellt Goethe dialektisch den Widerstreit vom endenden Winter und dem aufkommenden Frühling gegenüber und beschreibt, was sich dabei in der Natur und der Gesellschaft herausbildet. Er stellt den Kampf der Gegensätze in der Natur dar und das Ergebnis ist das Frühlingserwachen. Die Bewegung der Menschen behandelt Goethe als positive Folge des Frühlingserwachens, wie sie bei den wärmeren Temperaturen und schönem Wetter aus der Stadt in die Natur hinausströmen.
Vermutlich habe ich das Gedicht so gut in Erinnerung behalten, weil es positiv ansprechend, dialektisch das Frühlingserwachen behandelt und in Verbindung mit eleganter Sprache anschaulich darstellt.
Osterspaziergang von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Drama "Faust"
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche,
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet Hoffnungs-Glück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt's im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
Dring ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbes Banden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluss, in Breit' und Länge,
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet gross und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.