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Podiumsdiskussion: „Aufruhr gegen Faschismus in der Türkei“

Gestern Abend fand im Kultursaal der Horster Mitte in Gelsenkirchen eine bedeutsame Podiumsdiskussion zum Thema „Aufruhr gegen Faschismus in der Türkei“ statt. Eingeladen hatte das Internationalistische Bündnis.

Von gp
Podiumsdiskussion: „Aufruhr gegen Faschismus in der Türkei“
Blick auf das Podium (rf-foto)

Die Zusammensetzung des Podiums mit kompetenten Vertreterinnen und Vertretern von Organisationen aus der Türkei, Nordkurdistan und Rojava, Migrantenorganisationen aus Deutschland und der MLPD versprach eine spannende Diskussion. Süleyman Gürcan, Co-Vorsitzender von ATIK, Mustafa von BIR-KAR, ein Vertreter der Arbeiterpartei Türkei (TIP), Arif Çelebi von der Zeitschrift „Marksist Teori“1, Mustafa Agir Birhîmeoğlu vom Kurdischen Verein Essen und Umgebung, Gabi Fechtner, Vorsitzende der MLPD, Khadija Barakat von der PYD Frauen und Stefan Engel, Leiter des theoretischen Organs REVOLUTIONÄRER WEG der MLPD.


Es wurde deutlich, dass es bei den Massenprotesten und Demonstrationen selbst in Hochburgen der faschistischen AKP um mehr geht, als den Protest gegen die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu. In den Jahren der faschistischen Herrschaft, besonders in jüngster Zeit, hat sich eine Wut gegen die brutale Unterdrückung, aber auch die wirtschaftlichen Folgen der anhaltend hohen Inflation aufgestaut, die sich jetzt entlädt. Die Verhaftung von Imamoğlu brachte das Fass zum Überlaufen. „Es ist ein Aufstand, eine Rebellion für Gerechtigkeit und gegen die Armut“, so Arif Celebi von „Marxistische Theorie“. Trotz Demonstrationsverbot, Verhaftung von rund 2000 Personen und Verurteilung Hunderter gehen die Menschen auf die Straße.

"Antifaschistisch-demokratische revolutionäre Gärung"

Die Massenbewegung ist hauptsächlich spontan und heterogen zusammengesetzt, bis hin zu bürgerlichen Kräften, aber auch Nationalisten und Faschisten. Gabi Fechtner qualifizierte sie als „Übergang in eine antifaschistisch-demokratische, revolutionäre Gärung“. Deren Grundlage machte sie an fünf Punkten fest:

 

  1. Die Arbeiterkämpfe in den letzten Jahren, trotz Streikverbot als Vorreiter.
  2. Die kämpferische Frauenbewegung, die am 8. März das von Erdoğan verordnete „Jahr der Familie“ richtig als das „Jahr des Widerstands“ prognostiziert hat.
  3. Sie war auch Bindeglied zu weiten Teilen der Zwischenschichten bis hin zur bürgerlichen Opposition.
  4. Die Jugend, vor allem die Studenten, nehmen ihre Rolle als praktische Avantgarde wahr.
  5. Der Schulterschluss mit der kampfstarken kurdischen Bewegung entwickelt sich.


Ohne Bewusstheit, ohne sozialistische Perspektive und ohne marxistisch-leninistische Führung kann die spontane Bewegung aber nicht wirklich erfolgreich sein. Gabi Fechtner zog für die MLPD folgende Schlussfolgerungen für den Kampf in der Türkei: Notwendig ist eine antifaschistische Volksfront zum Sturz von Erdoğan. Dazu muss ein Kampf mit opportunistischen Standpunkten der Monopolpartei CHP geführt und die Perspektive des Sozialismus fester Bestandteil sein.

„Der Nationalismus ist das größte Gift in der Arbeiterklasse"

Einig war sich das Podium über die entscheidende Rolle der Arbeiterklasse in den Kämpfen. Aber noch nicht einig, wie das Klassenbewusstsein einzuschätzen ist und selbstkritisch, dass es die Aufgabe der Revolutionäre ist, dieses zu heben. „Viele Arbeiterinnen und Arbeiter nehmen an der Bewegung teil, aber noch nicht als Klasse“, so Mustafa von BIR-KAR. Wie der Stand des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse in der Türkei ist, waren mehrere Fragen aus dem Publikum. Dazu nochmals Mustafa von BIR-KAR: „Der Nationalismus ist das größte Gift in der Arbeiterklasse. Das beste Gegenmittel sind Arbeiterkämpfe.“

"Antikommunismus ist Kernstück des Faschismus"

Stefan Engel ging vor allem auf die Hintergründe der Entwicklung in der Türkei und die Rolle des Antikommunismus ein. „Man kann die Entwicklung in der Türkei nur begreifen, wenn man das gesamte imperialistische Weltsystem im Blick hat.“ Faschismus ist eine Begleiterscheinung eines gigantischen Konkurrenzkampfes um die Weltmärkte. Eine zweite Begleiterscheinung ist der Krieg mit einer ungeheuren Steigerung der Weltkriegsgefahr. Die Türkei ist Teil dieses Konkurrenzkampfes, was sich in einer reaktionären Verschärfung nach innen und nach außen ausdrückt. Kernstück des Faschismus ist der Antikommunismus: „Faschismus ist die staatliche Organisationsform des Antikommunismus. Man muss zwischen Antikommunismus als bürgerliche Ideologie und der kleinbürgerlich-antikommunistischen Denkweise, die veränderlich ist, unterscheiden.“


Eine besondere Rolle spielte in der Diskussion auch die kurdische Frage. Die Genossin der PYD ging dabei auf die Situation in Rojava und Syrien ein: „Rojava ist eine Revolution der Frauen. Ohne Frauen wird es keine Demokratie und kein neues System geben.“ Deshalb ist von großer Bedeutung, dass die kurdische Bewegung Teil der Aufstandsbewegung ist. Ein Eindruck aus dem Publikum, die kurdische Bewegung hätte zu wenig Solidarität mit den Palästinensern gezeigt, wurde zu Recht von Mustafa vom Kurdischen Verein zurückgewiesen.

"Wie werden sich die Massen und die Revolutionäre einig?"

Dazu sagte Monika Gärtner-Engel, Co-Vorsitzende der United Front und Hauptkoordinatorin der ICOR: „Trotz aller Schwierigkeiten, Probleme und Widersprüche finde ich ermutigend, was wir heute erleben. Nicht nur, was wir über die Türkei hören, sondern auch, dass ihr hier auf dem Podium sitzt, finde ich bemerkenswert. Die Türkei zeigt, die Massen wollen nicht im Faschismus untergehen. Die Frage ist nur, wie werden wir uns einig; wie werden sich die Revolutionäre für die Gärung der Massen einig?“ Hier spielt die Vereinheitlichung in der ICOR über das Verständnis der Veränderlichkeit des imperialistischen Weltsystems eine große Rolle und es ist wertvoll, dass es eine gemeinsame Resolution der ICOR-Parteien in der Türkei gibt.


In der Diskussion brachten Teilnehmerinnen und Teilnehmer verschiedene internationale Zusammenhänge zur Auseinandersetzung in der Türkei zur Sprache: So berichtete der Hauptkoordinator der Internationalen Bergarbeiterkonferenz vom mutigen Kampf der georgischen Bergarbeiter und der Bedeutung solcher Kämpfe, die die Koordinierung und Kooperation der Bergarbeiterbewegung unmittelbar begleitet. Ein Automobilarbeiter lud zur 3. Internationalen Automobilarbeiterkonferenz in Indien ein und forderte Unterstützung ein. Ein Teilnehmer warf die Frage auf, ob man von einer Demokratisierung der Türkei reden kann, solange dort der Imperialismus herrscht. Er betrachtete das als Illusion. Ein Stahlarbeiter berichtete, welche Rolle die Auseinandersetzung in der Türkei unter seinen Kollegen aus der Türkei hat. Wie AKP-Anhänger in die Defensive kommen, andere Kollegen jetzt den Mut haben, vom Faschismus in der Türkei zu reden. Für die Arbeiter hier ist es wichtig, vom Kampf gegen den Faschismus in der Türkei zu lernen.

 

In der Schlussrunde nahm jeder Podiumsteilnehmer noch mal kurz Stellung. Stefan Engel: Die Entwicklung in der Türkei ist Ausdruck der sich vertiefenden Krise des Imperialismus. Es zeigt aber auch, dass die Massen nicht im Faschismus leben wollen. Ohne Marxisten-Leninisten kann es keinen Sieg geben. Gabi Fechtner: Von Bedeutung ist das Internationalistische Bündnis, das vor zehn Jahren vorausschauend gegründet wurde, und die ICOR, der Zusammenschluss revolutionärer Organisationen. Mustafa vom Kurdischen Verein: Die kurdische Bewegung lebt von der Kritik. Über den weiteren Weg muss das kurdische Volk entscheiden. Und es hat sich entschieden, dem Aufruf Öcalans zu folgen. Mustafa, BIR-KAR: In der Bewegung muss der Kampf gegen den Reformismus der CHP geführt werden, die versucht, die Aufstandsbewegung in reformistische Bahnen zu lenken. Süleyman, ATIK: Die Revolutionäre müssen die Bewegung nutzen, um das revolutionäre Bewusstsein zu entwickeln. Der Vertreter der TIP: Es gibt verschiedene linke Organisationen, die zusammenarbeiten müssen. Dabei gibt es untereinander Widersprüche, die wichtig sind, aber beim gemeinsamen Kampf auf der Straße müssen wir uns zusammenfinden. Aufbauend auf den historischen Erfahrungen können wir auch lernen, wie wir diese Widersprüche auflösen.

Internationale Einheitsfront gegen den Faschismus stärken!

Ein Ergebnis des Abends war auch, dass wir hier in Deutschland den Kampf gegen die eigene Regierung und Monopole führen müssen: gegen die Waffenlieferungen in die Türkei, für den Abbruch der Zusammenarbeit der Bundesregierung mit dem faschistischen Erdoğan-Regime! Für die Stärkung der internationalen Einheitsfront gegen Faschismus, Krieg und Umweltzerstörung!

Stimmen zur Veranstaltung

Die Stimmen reichen von „Ich bin begeistert“ bis „Ich fand die Veranstaltung mega.“ Übereinstimmend heben die Befragten wie der Teilnehmer aus Duisburg hervor: „Ich finde es sehr gut, dass hier verschiedene politische Strömungen aus der Türkei zusammengekommen sind – das ist eine wichtige Errungenschaft, die hier deutlich wurde. Das hatten wir in der Breite bisher so nicht gesehen.“


Daran anknüpfend sagte eine Teilnehmerin aus Herne: „Man merkte, dass Meinungsverschiedenheiten da sind, dass sie nicht in allem einig sind – zum Beispiel zur Frage der neuimperialistischen Länder. Dass es trotzdem einen gemeinsamen Nenner gibt, ist etwas, das mir Mut macht. Dass man gemeinsam doch etwas verändern kann, wenn man untereinander solidarisch ist.“


Und ein junger Mann meinte: „Ich habe die Hoffnung, dass sich daraus auch gemeinsame antifaschistische Aktionen ergeben. Nicht nur von türkischstämmigen Menschen, sondern auch von Deutschen, dass man auch vor allem Jugendliche erreicht.“


Ein Teilnehmer zog aus der Veranstaltung den Schluss: „Ich finde den Aufbau der antifaschistischen Einheitsfront – in der Türkei, in Deutschland und auf der ganzen Welt wichtig. Das ist hier lebendig geworden.“