Interview mit Rechtsanwalt Frank Stierlin
„Vertrauen in staatliche Institutionen führt zur Unterschätzung der faschistischen Gefahr“
Im Zusammenhang mit der akuten faschistischen Gefahr erhielt Rote Fahne News die folgende Anfrage eines Lesers: „In der Auseinandersetzung mit von der AfD beeinflussten Menschen höre ich gerade immer öfter, ein Übergang zum Faschismus sei gar nicht möglich, das werde durch das Grundgesetz und die 'wehrhafte Demokratie' verhindert“.
Rote Fahne News sprach dazu mit Rechtsanwalt Frank Stierlin von der Anwaltskanzlei Meister & Partner.
Rote Fahne News: Wie beurteilst Du diese Ansicht?
Frank Stierlin: Ich halte sie für eine gefährliche Illusion. Wie wenig wehrhaft dieser Staat gegenüber faschistischen Kräften ist, sieht man schon daran, dass faschistische Parteien wie früher DVU und NPD und heute die AfD nicht verboten wurden, obwohl Art. III A. Abs. 3 des Potsdamer Abkommens ein eindeutiger Auftrag dafür ist. Nach Art. 139 des Grundgesetzes haben sämtliche „zur Befreiung des deutschen Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus erlassenen Rechtsvorschriften“ bis heute Gesetzeskraft. Ausgerechnet diese wirklich wehrhafte antifaschistische Grundgesetzvorschrift wird von der sogenannten „herrschenden Meinung“ der bürgerlichen Rechtswissenschaft aber ignoriert bzw. für nicht mehr gültig erklärt.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seiner „Wunsiedel-Entscheidung“ von 2009 betont: „Das Grundgesetz rechtfertigt kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts“. In seinem Urteil vom 17.01.2017 bescheinigte es der faschistischen NPD zwar eine „Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus“ und planvolle Aktivitäten gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“. Trotzdem lehnte es ein Verbot mit der Begründung ab, es fehle „an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, die es möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg führt“ . Beim Verbot der KPD 1956 war das Gericht da nicht so zimperlich. Sie wurde allein wegen ihrer sozialistischen Ziele und marxistisch-leninistischen Weltanschauung verboten.
Rote Fahne News: Das Grundgesetz enthält aber doch Regelungen, deren Beseitigung ausgeschlossen ist - wie zum Beispiel die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip?
Frank Stierlin: Richtig ist, dass nach Artikel 79 bestimmte Grundsätze wie freie Wahlen, die Bindung von Staatsorganen an Recht und Gesetz, der Föderalismus usw. auch durch eine Grundgesetzänderung nicht beseitigt werden dürfen. Verschiedene demokratische Rechte und Freiheiten wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Versammlungs- und Demonstrationsrecht, der Gleichbehandlungsgrundsatz, das Asylrecht usw. dürfen laut Artikel 19 „in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden“. Aber allein durch die Existenz solcher Regelungen wird ja nicht ihre Einhaltung garantiert. Es wäre naiv zu glauben, dass ultrarechte und faschistische Kräfte sich an Recht und Gesetz halten.
Rote Fahne News: Was man in den USA ja deutlich sehen kann …
Frank Stierlin: Allerdings, die Trump-Administration schert sich doch einen Dreck um Gesetze und Gerichtsentscheidungen. Aber auch hierzulande brechen die Herrschenden schon bewusst bestehende Gesetze. Die beschlossenen Pläne der künftigen Regierungskoalition zur Migration beinhalten z.B. die Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze. Das bedeutet nichts anderes als die faktische Abschaffung des Asylrechts. Die Aussetzung des Familiennachzugs ist ein klarer Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und den Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 des Grundgesetzes. Amnesty International kritisierte schon letztes Jahr europaweit einen Angriff auf die Versammlungsfreiheit. Demonstrationen wurden und werden verboten oder durch brutale Polizeigewalt aufgelöst ...
Rote Fahne News: … was manche Gerichte für rechtswidrig erklärt haben.
Frank Stierlin: Solche Urteile sind natürlich zu begrüßen und zeigen, dass es im Justizapparat durchaus Widersprüche gegen die Rechtsentwicklung gibt. Man muss aber auch sehen, dass sie meist erst im Nachhinein ergingen und diese reaktionären Maßnahmen nicht verhindert haben. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf zur Engels-Demonstration in Wuppertal kam z.B. dreieinhalb Jahre später.
Deshalb: Allein die antifaschistische Überzeugungsarbeit, der aktive Kampf um Erhalt und Erweiterung demokratischer Rechte und Freiheiten und der Aufbau einer breiten antifaschistischen Einheitsfront können den Übergang zum Faschismus verhindern. Zum antifaschistischen Kampf gehört natürlich auch die Nutzung aller juristischen Möglichkeiten und den Kampf zur Verteidigung und Erweiterung der bürgerlich-demokratischen Rechte und Freiheiten.
Rote Fahne News: Vielen Dank für das Interview!