Gestern bis zu 325.000 Demonstranten
Serbien: Massenproteste steigern sich weiter
Das serbische Innenministerium zählte 107.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der gestrigen Massendemonstration in Belgrad. Eine auf Schätzungen spezialisierte Beobachtergruppe geht nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP von einer Zahl zwischen 275.000 und 325.000 Personen aus. Luftaufnahmen zeigen langgezogene Straßenzüge der Innenstadt voller Menschen.
Viele waren schon am Vorabend aus dem ganzen Land angereist. Immer wieder erschallte der Schlachtgesang: „Pumpaj! Pumpaj!". Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass dem Protest die Energie und der Atem nicht ausgehen.
Seit November 2024 halten Studentinnen und Studenten alle staatlichen Universitäten unter Blockade. Anlass war, wie schon mehrfach berichtet, der Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad bei dem am 1. November 2024 15 Menschen ums Leben kamen.
Nach den großen Massenprotesten gegen den Bergbaukonzern Rio Tinto im Jahr 2023 beziehen die Proteste immer mehr Menschen gegen die Regierung Vucic ein. Selbstorganisierte Schlägertrupps gegen die Demonstranten, Lohnkürzungen gegenüber protestierenden Lehrern, Drohungen und Hetze in den Medien halten die Menschen in Serbien nicht ab – im Gegenteil. Die Proteste werden verstärkt, verändert und es werden Spendenaktionen z.B. zu Gunsten der Lehrer organisiert. Zahlreiche Kulturanstalten und Verlagshäuser schlossen sich letzte Woche dem Protest an und traten in den Streik. Die Nationalbibliothek Serbiens war in einen zweitägigen Streik getreten, sowie die Belgrader Philharmonie. Die Anwaltskammern in Belgrad, Kragujevac, Niš und der nordserbischen Provinz Wojwodina, die den ganzen Februar gestreikt hatten, schlossen sich letzte Woche ebnfalls an, was die Arbeit der Gerichte erheblich lähmte.
Es gibt vier zentrale Forderungen, die Studierende an den besetzten Universitäten beschlossen haben und die auf breiten Konsens stoßen. Das sind: die Veröffentlichung von Dokumenten rund um die Bahnhofsrenovierung in Novi Sad, die Strafverfolgung der verantwortlichen Politiker, der Rücktritt des serbischen Ministerpräsidenten Miloš Vučević und des Bürgermeisters von Novi Sad und die Strafverfolgung aller Personen, die Demonstrantinnen und Demonstranten angegriffen haben. Teilerfolge sind auf jeden Fall zu verbuchen. Immerhin verabschiedete das Parlament letzte Woche ein Gesetz, das um 20 Prozent höhere Finanzmittel für die staatlichen Universitäten vorsieht. Das war eine der Forderungen der Studierenden. Nach Ansicht der Regierung wurden dadurch alle Studierendenforderungen erfüllt – nicht aber in den Augen der Massen.
Ökonomischer und politischer Hintergrund der Proteste ist, dass das System Vucic eine besondere Form der Dienstleistung für die Monopole ist. Serbiens Präsident Vucic und seine rechte Regierung pokern um die Gunst führender internationaler Übermonopole aus China, der EU, Russland und USA, um zugleich die Maximalprofite der staatseigenen Monopole und Oligarchen zu sichern. Sie nutzen dazu die zwischenimperialistischen Widersprüche aus. So lädt Vucic die EU-Imperialisten ein, den Export von Lithium zu übernehmen, einen wichtigen Rohstoff für Elektrofahrzeuge. Gleichzeitig dealt er mit Putin um ein Gasabkommen, um angesichts der US-Sanktionen auf das serbische Ölunternehmen NIS nicht ins Hintertreffen zu geraten.
Auch Putin schmecken die Proteste deshalb gar nicht, was in bekannter Geheimdienstmanier gleich auf „äußerer Einmischungen in die serbische Innenpolitik“ diskreditiert wird. Wenn sich jemand in die inneren Angelegenheiten Serbiens einmischt, dann sicherlich das neuimperialistische Russland, die USA und Europa. China hat mit Serbien ein Waffenabkommen. Trotz offizieller Neutralitätspolitik im Ukraine-Konflikt liefert Serbien inzwischen über Drittländer Munition im Wert von etwa 800 Millionen Euro an die Ukraine. Gerade die Wahl Trumps ermutigt nationalistisch-faschistische Vertreter in der Regierung, ihre Rechtsenticklung zu forcieren. Die stellvertretende Pressesprecherin des Pentagon, Kingsley Wilson, schrieb unlängst auf X: "Make Kosovo Serbia again". EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen besuchte unlängst Belgrad und lobte "ihren Freund" Vučić für Fortschritte im Rechtsstaatlichkeitsbereich.
Natürlich spielt die Korruption bei der Vergabe von Bauanträgen etc. eine große Rolle und wird auch berechtigt durch die Protestierenden attackiert. Aber das zum alleinigen Problem zu erklären, wäre zu vordergründig. Die Regierung in Serbien macht eine knallharte imperialistische Umverteilungspolitik gegenüber den Massen, ohne selbst ein neuimperialistisches Land zu sein.
In den Protesten wird teilweise kritisiert, dass die bürgerlichen Medien, wenn sie überhaupt berichten, von reinen Studierendenprotesten sprechen, um den Gedanken tiefgreifender sozialer Veränderungen zu verhindern. Auf die Frage: Warum protestiert ihr? geht es oft um Probleme des alltäglichen Lebens, allen voran die Trinkwasserversorgung in ehemals industriellen Zentren, Arbeitslosigkeit und Abbau demokratischer Rechte und Freiheiten besonders in den Betrieben. Es geht vielen schon um grundlegende Veränderungen, dass schon klar ist, wie das aussehen soll. Um so bedeutender ist es, dass zum Teil unter dem Motto „Schulter an Schulter – Studenten und Arbeiter“ demonstriert wird.
Die Protestbewegung zeigt keine Anzeichen des Nachlassens und bleibt ein bedeutender Faktor im politischen Geschehen des Landes. Die Frage des (Neu)Aufbaus starker revolutionärer Organisationen und die Perspektive des echten Sozialismus sind das Gebot der Stunde.