Leserbrief zu dem Artikel "Tarifrundenergebnis: Wenn dich deine Feinde loben …"
"Es ist Aufgabe der Marxisten-Leninisten, den Arbeitern reinen Wein einzuschenken, nicht aber, ihnen die Allmacht der Bosse zu suggerieren"
Liebe Genossinnen und Genossen! Ihr beruft euch mit dem Artikel vom 27. Dezember 2024 "Tarifrundenergebnis: Wenn deine Feinde dich loben" auf die Flugblattserie "Streik aktuell". Tatsächlich ist die Botschaft dieses Artikels konträr zum roten Faden der Flugblattserie und anderen wichtigen Veröffentlichungen zu den Arbeiterkämpfen der letzten Monate. Berechtigt hatte Rote Fahne News am 20. Dezember, unmittelbar nach dem VW-Abschluss, getitelt: "Ein Schlag ins Gesicht der VW-Belegschaften. Aber: VW-Vorstand gegenüber Maximalzielen in die Defensive geraten.".
Kernaussage eures Artikels ist dagegen, dass VW mit dem Tarifabschluss einen vollen Durchmarsch gemacht habe, der von bürgerlichen Politikern gelobt wird und nach August Bebel die Frage aufwirft, was die Arbeiter falsch gemacht haben. Jede andere Beurteilung wird als "irreführende Meldung" abqualifiziert.
Ich meine: Euer Maßstab zur Beurteilung ist in sich nicht nur konkret, sondern auch grundsätzlich einseitig und falsch.
Tatsächlich ist der Abschluss ein fauler Kompromiss, bei dem sich die Kapitalisten hauptsächlich durchgesetzt haben. Dies vor allem dadurch, dass sie die Ziele ihres geplanten Generalangriffs durch die Hintertür projektiert und dies quasi vertraglich legitimiert bekommen haben. Sie wurden ja nicht einmal mit dem vollen Einsatz der gewerkschaftlichen Kampfkraft konfrontiert, wie das viele Arbeiter gefordert hatten.
Was ihr aber völlig leugnet, ist die Defensive der VW-Spitze aufgrund der großen Kampfbereitschaft der Arbeiter und der Solidarität in der Bevölkerung. Sie konnten die geplante Vernichtung von Zehntausenden Arbeitsplätzen durch Massenentlassungen nicht durchsetzen, sondern mussten den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis 31. Dezember 2030 zusichern. Sie konnten keine Werksschließung durchsetzen, wie es bis kurz vor Schluss u.a. mit Emden geplant war. Das sind nicht irgendwelche Fake News, sondern tatsächliche Zugeständnisse.
Ihr dagegen nehmt einige angebliche, nicht einmal zitierte, erleichterte Äußerungen bürgerlicher Politiker zum Maßstab und haltet den Arbeitern den Satz von August Bebel vor: "Wenn mich meine Feinde loben, kann ich sicher sein, einen Fehler gemacht zu haben.". Welchen Fehler sollen denn die Arbeiter gemacht haben?
Karl Marx rückt den treffenden Maßstab zur Beurteilung von Kampfergebnissen ins Bewusstsein: "Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter." Die Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Conkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger.". (Manifest der Kommunistischen Partei).
Hat sich in diesem Kampf der VW-Arbeiter die Konkurrenz unter den Arbeitern verstärkt? Nein! Es wurde konzernweit gekämpft. Keine Standortspaltung hat funktioniert. Mehr noch: Viele Arbeiter bei VW waren ausdrücklich solidarisch mit den Stahlarbeitern, den Kollegen bei Ford, ZF oder Bosch. Das gewerkschaftliche Bewusstsein ist in der Belegschaft auf breiter Front erwacht. Das Selbstbewusstsein der Arbeiter, die proletarische Denkweise wurde gestärkt gegenüber der langjährigen Gewöhnung an die kleinbürgerlich-reformistische Denkweise der Klassenzusammenarbeitspolitik. Eine Häufung kleinerer selbständiger Streiks drückt gewachsenes Selbstvertrauen und Klarheit aus, dass die Arbeiter selbst das Heft in die Hand nehmen müssen. Die Betriebsgruppen der MLPD und die Zeitung Vorwärtsgang haben sich nicht nur bewährt, sondern an Einfluss, Vertrauen und Wirksamkeit gewonnen und sich gestärkt, was nur mit einem verstärkten Fertigwerden mit der kleinbürgerlich-antikommunistischen Denkweise zu erklären ist.
Kurz um: wichtige Schritte im Übergang zur Arbeiteroffensive wurden gemacht.
Natürlich ist das noch nicht die Arbeiteroffensive. Sie ist unter den heutigen Bedingungen eine sehr hohe Anforderung an das Klassenbewusstsein und bedeutet, "den Kampf um die Tagesforderungen und Teillosungen auf offensive Art zu führen, um ihn höher entwickeln zu können. … Der ökonomische Kampf muss die soziale und ökologische Frage umfassen und mit dem politischen Kampf verbunden bzw. in den politischen Kampf übergeleitet werden. … Der Kampf zur Befreiung der Arbeiterklasse und zur Befreiung der Frau muss identisch werden. … Die Arbeiterkämpfe müssen den Kampf um die Lösung der sozialen Frage mit dem Kampf um die Lösung der Umweltfrage verbinden. … Der Motor des Übergangs zur Arbeiteroffensive ist die Einheit von Jung und Alt. … Die Einzelkämpfe müssen zu Massenkämpfen zusammengefasst und höherentwickelt werden. … Gegebenenfalls muss der gewerkschaftliche Rahmen durchbrochen werden, und die Arbeiterklasse muss zu selbständigen Kämpfen übergehen. … Die Arbeiterklasse muss mit dem gesellschaftlich organisierten System der kleinbürgerlichen Denkweise fertig werden. … Die Arbeiterkämpfe im nationalen Rahmen müssen gegebenenfalls länderübergreifend ausgedehnt werden. So werden sie zur Schule der internationalen Arbeitereinheit und der Vorbereitung der internationalen Revolution.". (Programm der MLPD, S. 107ff)
Es ist die Aufgabe der Marxisten-Leninisten, den Arbeitern reinen Wein einzuschenken, dass ihnen mit den bevorstehenden größten Klassenauseinandersetzungen der Nachkriegsgeschichte harte Kämpfe und große Herausforderungen an die proletarische Denkweise bevorstehen; nicht aber ist es Aufgabe der Marxisten-Leninisten, den Arbeitern die Allmacht der Bosse zu suggerieren, ihnen die Erfolglosigkeit ihres Kampfes zu bescheinigen und zu versuchen, Druck für eine künstlich forcierte Entwicklung des Klassenbewusstseins auszuüben.
Wer sagt denn, dass der Kampf zu Ende ist? Die einschneidenden Lohnsenkungen setzen den selbständigen Kampf um Lohnnachschlag auf die Tagesordnung. Die geplante Vernichtung von 35.000 Arbeitsplätzen fordert selbständige Kämpfe heraus. Um sie führen zu können, müssen die Arbeiter mit der kleinbürgerlichen Denkweise der Klassenzusammenarbeitspolitik fertig werden und vor allem immun gegenüber der kleinbürgerlich-antikommunistischen Denkweise.
Nach all den Erfahrungen der letzten Monate kann man das feste Vertrauen in die Arbeiter haben, dass sie – nicht zuletzt durch die Überzeugungsarbeit der MLPD – ihre Erfahrungen verarbeiten und ihre Schlussfolgerungen ziehen werden. Wie endete doch vorausschauend der Artikel am 17. Dezember 2024 von Gabi Fechtner "Im Trainingslager für die Arbeiteroffensive"? "Gerade, weil die Veränderungen so groß sind, muss man den Arbeiterinnen und Arbeitern Zeit geben, sie zu verarbeiten und die neuen Herausforderungen zu begreifen. … Und nur in Verbindung mit praktischen Kampferfahrungen entwickelt sich das Klassenbewusstsein. Es ist äußerst bedeutsam, dass dieser Prozess begonnen hat."