Ukrainekrieg
Desertation: Eine ganze Brigade sitzt auf der Anklagebank
Im Dezember eröffnete das staatliche Ermittlungsbüro der Ukraine (SBI) eine strafrechtliche Untersuchung der Umstände der Bildung der 155. mechanisierten Brigade, die in die Schlacht bei Pokrowsk geschickt wurde. Dieser Fall ist symptomatisch für die Situation der Ukraine: Immer weniger Menschen wollen für das Selenskyj-Regime in den Krieg ziehen.
Der Fall hat höchste Bedeutung: Er unterliegt der Kontrolle des Oberbefehlshabers, also des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, sowie des Verteidigungsministers Rustem Enwerowytsch Umjerow und des Oberbefehlshabers der Streitkräfte, General Oleksandr Syrskyj.
Einer der für die Aufstellung der Brigade verantwortlichen Militärführer soll zwischenzeitlich an einem Herzinfarkt verstorben sein, während der Brigadekommandeur unmittelbar nach Eintritt der Brigade in den Kampf entlassen wurde. Bevor die Brigade ihren ersten Schuss abgab, sollen rund 1.700 Soldaten desertiert sein. Das entspricht mehr als einem Drittel der Sollstärke einer voll ausgerüsteten Brigade.
Yuriy Butusov berichtet auf dem ukrainischen Nachrichtenportal censor.net sehr detailliert: Die Desertationen begannen unmittelbar nach der Aufstellung der Einheit im März letzten Jahres – ab Juni waren es jeden Monat Hunderte Soldaten, die aus der Einheit flohen.
Die ukrainischen Unterstützer des Krieges machen die Politik der Regierung dafür verantwortlich, permanent neue Einheiten aus neuen Rekruten aufzustellen, anstatt die an der Front ausgebluteten Einheiten zu verstärken. Das führe dazu, dass die neuen Brigaden keine ausreichenden Führungskader hätten, die ihnen die Kampferfahrungen vermitteln könnten, und außerdem keine ausreichende Kontrolle über die neuen Rekruten bestehe.
Rekrutierung immer brutaler
Die ukrainischen Rekrutierungen nehmen immer drastischere Züge an. Fast täglich tauchen neue Berichte auf, wie junge Männer auf offener Straße mit Gewalt zum Militärdienst gezwungen werden. In Sumy soll laut WELT ein Rekrut an schweren Kopfverletzungen, die er durch Militärangehörige erlitt, gestorben sein. In Poltawa wurde einem Mann bei der Rekrutierung ein Bein gebrochen. All das fördert den Zorn und Widerstand der Massen.
Die 155. Brigade ist dabei aber nur ein Beispiel für einen allgemeinen Trend: Seit Kriegsbeginn sollen etwa 100.000 Soldaten desertiert sein, wobei diese offiziellen Zahlen ausschließlich solche Fälle zählen, bei denen die Soldaten dauerhaft von der Front fernbleiben und sich auch, nachdem sie aufgegriffen wurden, geweigert haben, zu ihren Einheiten zurückzukehren.
Ganze Einheiten weigern sich, zu kämpfen
Die Zersetzungserscheinungen gehen aber weiter, immer wieder kommt es vor, dass ganze Einheiten sich weigern, zu kämpfen. Anfang Mai 2024 zog sich die ukrainische 115. mechanisierte Brigade ohne Erlaubnis von der Front zurück (RF-News berichtete) und ermöglichte damit den russischen Durchbruch bei Otscheretyne, von dem aus die russische Offensive gegen Pokrowsk begann.
Im Oktober weigerte sich der befehlshabende Offizier des 186. Territorialverteidigungs-Battalions, Oberstleutnant Ihor Hryb, seine Soldaten auf ein aussichtsloses Himmelfahrtskommando zu schicken.
Die Brigade wurde Cherson aus abgezogen und sollte die stark dezimierte 72. mechanisierte Brigade ablösen, die Wuhledar im Gebiet Donezk verteidigte. Soldaten der Einheit berichteten später, dass das Bataillon zu diesem Zeitpunkt nur über 20 bis 30 Prozent seiner Sollstärke und Maschinengewehre verfügte. In Wuhledar sollten sie gegen Panzer und Drohnen kämpfen. Oberstleutnant Ihor Hryb verweigerte darauf hin den Befehl, seine Soldaten „in ein sicheres Massaker“ zu führen. Soldaten der Einheit berichten, dass Vertreter des Oberkommandos darauf hin persönlich zum Hauptquartier des Bataillons gekommen seien und Hryb mit dem Kriegsgericht drohten. Der 33-Jährige weigerte sich trotzdem, den Befehl auszuführen, und beging stattdessen am 2. Oktober Selbstmord.
An der Front: Ukraine kommt nicht aus der Defensive heraus
An der Ostfront haben russische Truppen die strategisch wichtige Stadt Pokrowsk fast erreicht. Schon seit längerer Zeit befindet sie sich in der Reichweite der russischen Artillerie. Pokrowsk ist für die Ukraine unverzichtbar: Fällt dieser Verkehrsknotenpunkt, kann der Nachschub nicht mehr wie bisher an die Front gelangen.
Südlich und östlich von Pokrowsk sind russische Truppen in die Städte Kurachowe, Schewtschenko und Torets’k vorgedrungen. Dort seien die Frontlinien bis auf kürzeste Distanzen aneinander gerückt und zögen sich teilweise durch einzelne Gebäude. Dementsprechend wird von brutalen Nahkämpfen berichtet.
Im russischen Oblast Kursk drängen russische Truppen, verstärkt durch nordkoreanische Verbände, die Ukrainer immer weiter zurück. Sie halten dort nur noch etwa 750 Quadratkilometer.
Das Nachrichtenportal „Ukrainska Pravda“ berichtet, dass die Ukraine im Moment täglich an die 20 Quadratkilometer an die russische Armee verliere; im vergangenen Jahr seien 3600 Quadratkilometer verloren gegangen. Das wäre etwas weniger als die Fläche des Saarlands, Berlins und Bremens zusammen genommen.
Dabei erkauft die neuimperialistische russische Führung diese Geländegewinne mit immensen Verlusten. Genaue Zahlen sind spekulativ, aber es ist wahrscheinlich, dass teilweise Tausend russische Soldaten am Tag verwundet oder getötet werden. Russland kompensiert für diese Verluste aktuell weiter, indem es massiv mit finanziellen Angeboten, Schuldenerlass und erhöhtem Sold versucht, Freiwillige zu gewinnen (RF-News berichtete).
USA wollen 18-jährige Ukrainer an die Front schicken
Die westlichen Verbündeten sehen das Hauptproblem dabei weniger in der militärischen und ökonomischen Lage und fordern stattdessen von der Ukraine, nicht nur wie bisher Männer ab dem 25., sondern schon ab dem 18. Lebensjahr einzuziehen und an die Front zu schicken. Das bestätigte Georgij Tichij, ein Vertreter des ukrainischen Außenministeriums, erneut am 3. Januar: Die Herabsetzung des Rekrutierungsalters auf 18 Jahre sei Thema der Verhandlungen mit den USA. Bislang weigert sich Selenskyj, da er zu Recht fürchtet, dass dies den Widerstand der Massen gegen den Krieg noch weiter befeuern würde.
Diese Forderung wurde bereits seit November immer wieder geäußert, sowohl von den USA als auch Großbritannien. Es ist ein menschenverachtender Zynismus der imperialistischen Kriegslogik, einfach immer jüngere Menschen in die Materialschlacht werfen zu wollen. Dabei löst es das grundlegende Problem der Imperialisten nicht: Die Massen sind zunehmend nicht mehr bereit, sich weiter für die Kriegsinteressen der NATO an der Ostfront verheizen zu lassen.