Weihnachten im Kriegsgeschehen

Weihnachten im Kriegsgeschehen

Winternacht in den Ardennen: Eine wahre Weihnachtsgeschichte von 1944

Am Heiligen Abend 1944, mitten in der Ardennenschlacht, hatten Mutter und ich unerwartete Gäste. Ich war zwölf Jahre alt, als wir in einer Aprilnacht 1944 durch einen schweren Bombenangriff auf Aachen obdachlos wurden. Unser Wohnhaus mit der dazugehörenden Bäckerei war nur noch ein rauchender Trümmerhaufen. Zusammen mit meinen Eltern wurde ich nach Neuwied am Rhein evakuiert.

Winternacht in den Ardennen: Eine wahre Weihnachtsgeschichte von 1944
Heute gilt es, die internationale Einheitsfront gegen Faschismus und Krieg zu schmieden und gegen die herrschenden Kriegstreiber zu kämpfen (rf-foto)

Mein Vater, der Bäckermeister Hubert Vincken, wurde dort für die nächsten Monate Backstubenleiter beim Obermeister, bis dessen Bäckerei ebenso durch Fliegerschaden ausfiel. Nun drohte meinem Vater, 48 Jahre alt, die Einberufung zur Wehrmacht, doch der Obermeister sorgte dafür, dass er zur Arbeit in einer Heeresbäckerei dienstverpflichtet wurde. Irgendwo im deutsch-belgischen Grenzgebiet der Ardennen wurde das Brot für die mit Schanzarbeiten am Westwall beschäftigten Baukolonnen gebacken. Dorthin wurde mein Vater abkommandiert.

 

Durch Frankreich rollte die alliierte Invasion unaufhaltsam ostwärts. Viele glaubten, der Krieg gehe im Herbst zu Ende und planten, sich von der Front überrollen zu lassen. Je früher, desto besser. Kaum jemand fürchtete den westlichen Gegner. So kam mein Vater eines Abends mit einem Kübelwagen der Wehrmacht nach Neuwied, lud meine Mutter Elisabeth und mich auf und brachte uns in einer stundenlangen Nachtfahrt in seine Nähe. Dort hatte er eine Unterkunft für uns vorbereitet. In einer leestehenden Baracke der »Organisation Todt«, die einsam und versteckt an einer Lichtung stand, sollten wir die nächsten drei, vier Wochen ausharren. “Dann haben wir den Krieg hinter uns”, sagte mein Vater voller Optimismus.

 

Leider sollte sich diese Hoffnung nicht erfüllen.Der Herbst zog sich dahin, die Front versteifte sich und im Dezember wagte Hitler seine Ardennenoffensive. Da waren wir immer noch in unserer Hütte, tief eingeschneit und seit Wochen ohne Verbindung zur Außenwelt. Mein Vater, der uns bis in den November hinein wöchentlich Verpflegung gebracht hatte, kam infolge der Schneewehen nicht mehr zu uns durch. Unsere Hütte hatte zwei verglaste Fenster und einen gemauerten Ofen, auf dem sich kochen ließ. Holzscheite lagen bereit. Grundnahrungsmittel hatten wir ausreichend: Kartoffeln, Mehl, Nudeln und Haferflocken. Bevor der Schnee fiel, ging ich oft ins Tal zu einer Kartoffelmiete, an der die dort häufigen Wildschweine ein Loch gebuddelt hatten. Dort holte ich mit einem Rucksack so viel und so oft ich nur konnte.

 

In einem verlassenen Gehöft fand ich eine Menge Kerzen und einen einsamen, hungrigen Hahn, der mir wie ein Hündchen folgte. Sein Appetit war enorm, und er räumte tüchtig unter den Haferflocken auf. Das blieb nicht ohne Folgen, denn mit seinem Gewicht nahm auch die Lautstärke seines Krähens zu, und wir fürchteten, dass er auf uns aufmerksam machen könnte. Vor Weihnachten musste Mutter ihn zum Schweigen bringen.

 

Schon seit über eine Woche hörten wir den aus den Tälern zu uns dringenden Kampflärm. Dort unten tat sich etwas, und wir fassten neuen Mut. Mutter hoffte, Vater sei gesund in Kriegsgefangenschaft geraten. Bald sei auch für uns der Krieg vorbei.

 

Am 24. Dezember schien die Wintersonne an einem wolkenlosen Himmel. Den ganzen Tag über hörten wir das dumpfe Dröhnen alliierter Kampfflugzeuge, die völlig ungestört mit ihrer Bombenlast über uns hinwegzogen. Es war bitterkalt. Mit der Dunkelheit kam die Stille, und der Himmel gehörte wieder den Sternen, die über unsere tiefverschneite Lichtung funkelten. Mutter, die im spärlichen Licht einer Kerze am Ofen hantierte, sagte vor sich hin: “Wenn man nur wüsste, was aus Vater geworden ist. Wo mag er jetzt schon sein?” Ich saß im Halbdunkel und wartete ungeduldig auf die Hühnersuppe. Auf einmal klopfte es an unsere Tür. Erschrocken zuckte ich zusammen und sah, wie Mutter hastig die Kerze ausblies.

 

Dann klopfte eswieder. Wir fassten uns ein Herz und machten auf. Draußen, wie Phantome vor der schneebedeckten Lichtung, standen zwei Männer mit Stahlhelmen. Einer von ihnen sprach zu Mutter in einer Sprache, die wir nicht verstanden, und zeigte auf einen Dritten, der im Schnee lag. Wir begriffen sofort, dass diese Männer amerikanische Soldaten waren. Feinde! Mutter  stand regungslos neben mir. Sie waren bewaffnet und hätten ihr Eintreten erzwingen können, doch sie standen da und fragten mit den Augen.

 

Und der im Schnee Sitzende schien mehr tot als lebendig. “Kommt rein” sagte meine Mutter mit einer einladenden Geste. Die Soldaten nahmen ihren Kameraden und streckten ihn auf meinem Strohsack aus. Keiner von ihnen verstand Deutsch, doch als einer es mit seinem Französisch versuchte, konnte er sich verständlich machen. Er glaubte wohl, wir seien Wallonen. Mutter hatte als Kind im benachbarten Belgien einige Jahre die Schule besucht und dort Französisch gelernt. Während Mutter nach dem Verwundeten sah, half ich den beiden anderen beim Ausziehen ihrer schweren Mäntel. Sie machten einen erschöpften Eindruck. Am Ofen sitzend, wich die Kälte von ihnen und mit der Wärme stellten sich auch die Lebensgeister wieder ein.

 

Wir erfuhren, dass der stämmige, dunkelhaarige Bursche Jim hieß; sein Kamerad, größer und schlanker, war Ralph. Harry, der Verwundete, schlief nun auf meinem Bett; sein Gesicht so weiß wie Schnee. Sie waren Versprengte, hatten ihre Einheit verloren und waren seit Tagen im Wald umhergeirrt. Unrasiert wie sie waren, sahen sie ohne ihre schweren Mäntel denoch wie große Jungen aus. Und so wurden sie auch von Mutter versorgt. “Geh, bring noch sechs Kartoffeln”, rief sie mir zu. Sie hatte eine zweite Kerze angezündet und schnitt die gewaschenen ungeschälten Erdäpfel in unsere Suppe. Sie zu schälen galt damals bei uns als Verschwendung.

 

Während Jim und ich Mutter zuschauten, sah Ralph nach Harry. Er hatte viel geblutet, nun lag er teilnahmslos und still. Mutters Suppe verbreitete schon längst einen einladenden Duft. Ich war gerade dabei, den Tisch zu decken, da klopfte es wieder an der Tür. In der Erwartung, dass noch mehr versprengte Amerikaner draußen standen, öffnete ich ohne Zögern. Ja, es waren Soldaten, vier Mann, und alle bis auf die Zähne bewaffnet! Ihre Uniform war mir wohlvertraut nach fünf Jahren Krieg. Das waren Soldaten der Wehrmacht, das waren unsere! Ich war vor Schreck wie gelähmt. Obschon ich noch ein Kind war, wusste ich: Wer den Feind in irgendeiner Weise begünstigt, wird erschossen!

 

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