Letzte Weihnachtsgeschichte für dieses Jahr
Vor 110 Jahren: Weihnachtsfriede – oder „Reden erst die Völker selber…“
Im August 1914 begann das deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. den I. Weltkrieg – getrieben vom gesetzmäßigen Drang des deutschen Großkapitals nach gewaltsamer Ausdehnung seiner Macht und Profite.
Es war die erste barbarische Schlacht des weltweiten Imperialismus. Siegestrunken von nationalistischer Propaganda folgten breite Massen. Ihnen wurde vorgegaukelt: Bis Weihnachten 1914 ist alles vorbei. Doch die raue Wirklichkeit war eine andere: An der gesamten Westfront entwickelt sich bis Weihnachten 1914 ein barbarischer Graben- und Stellungskrieg zwischen deutschen, englischen und französischen Truppen. Ein Ende des Krieges war nicht mehr absehbar.
Die feindlichen Gräben waren oft nur auf Rufweite 50 bis 100 m voneinander entfernt. Erst zaghaft, dann immer mutiger entwickelte sich an den Weihnachtstagen 1914 spontan der „Weihnachtfriede“ zwischen den Soldaten, die kurz zuvor noch aufeinander geschossen hatten: Deutsche Soldaten stellten Tannenbäume auf die Gräben. Auf beiden Seiten wurden gleichzeitig Weihnachtslieder gesungen. Weihnachtsgeschenke wurden ausgetauscht: Tabak, Schokolade, Bier ... Im vorher tödlichen Niemandsland zwischen den Gräben fand auf eisigem Boden ein deutsch-englisches Fussballspiel statt. Davor wurde von den Deutschen ein Bierfass zu den Walisern gerollt, das sie in der Brauerei des Ortes geraubt hatten.
Im Bataillonstagebuch der Scots Guards vom Dezember 1914 hieß es: „Zwischen Schotten und Hunnen (englisches Schimpfwort für Deutsche) fand weitestgehende Verbrüderung statt. Alle möglichen Andenken wurden ausgetauscht, Adressen gingen her- und hinüber, man zeigte sich Familienfotos usw. Einer von uns bot einem Deutschen eine Zigarette an. Der Deutsche fragte: ‚Virginia‘? Unserer sagte: ‚Klar, straight-cut Schnitt‘. Darauf der Deutsche: ‚Nein, danke, ich rauche nur türkischen …‘ […] Darüber haben wir alle sehr gelacht.“
Insgesamt ca. 100 000 einfache Soldaten an vielen Teilen der Westfront beteiligten sich an dieser Verbrüderung (im Militaristenjargon als “Fraternisierung“ geächtet). Aber auch Offiziere beteiligten sich. So befahl der deutsche Leutnant Kurt Zehmisch, während der Feiertag nicht zu schießen. In seinem Tagebuch schrieb er, „dass die verhassten Feinde für kurze Zeit zu Freuden wurden.“ Viel weiter geht der britische Überlebende Murdoch M. Wood: Er sagte 1930 vor dem britischen Parlament, dass die Soldaten wohl niemals wieder zu den Waffen gegriffen hätten, wäre es nach ihnen gegangen.
Doch es ging nicht nach ihnen: Die imperialistischen Heeresleitungen auf beiden Seiten erkannten in dieser Friedenssehnsucht und Verbrüderung der einfachen Soldaten eine strategische Gefahr für ihre Kriegsziele. Für Weihnachten 1915 gab die deutsche Oberste Heeresleitung daher den Befehl aus: „Jeder Versuch der Verbrüderung mit dem Feind… ist streng verboten. Zuwiderhandlungen werden als Hochverrat behandelt.“ Wir wissen: Diese Haltung endete mit Millionen Toten.
Die Botschaft des „Weihnachtsfriedens“ – auch wenn er nur kurz währte – war dagegen eine andere, so wie im Solidaritätslied von Bert Brecht: „Reden erst die Völker selber, werden sie schnell einig sein…“ Eine hochaktuelle Weihnachtsbotschaft auch heute an die Soldaten in der Ukraine, in Gaza und anderswo ...
Das „Zeitzeichen“ im WDR 5 erinnerte am 24.12. an diesen denkwürdigen Tag: https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/zeitzeichen-weihnachtsfrieden-100.html