Weihnachten 1944
"Sobald dieser verdammte Krieg zu Ende ist"
Kam nun alles zu einem furchtbaren Ende? Mutters Gesicht konnte ich nicht sehen, als sie heraustrat, doch ihre gefasste Stimme beruhigte mich etwas: "Sie bringen aber eine eisige Kälte mit, meine Herren. Möchten Sie mit uns essen?”, entfuhr es ihr. Damit schien sie den richtigen Ton gefunden zu haben.
Die Soldaten grüßten freundlich und waren sichtlich froh, im Grenzland zwischen den Fronten Landsleuten zu begegnen. “Dürfen wir uns hier etwas aufwärmen?”, fragte der Rangälteste, ein Unteroffizier. “Vielleicht haben sie irgendwo Platz für uns bis zum Morgen?” “Natürlich”, antwortete Mutter in aller Herzlichkeit. “Sie können auch eine warme Suppe mit uns essen.” Die Deutschen lächelten, als sie das Aroma durch die halboffene Tür rochen. “Doch”, fügte Mutter in einem aus schierer Angst erwachsenden Todesmut hin, “es sind bereits drei Durchfrorene hier, um sich etwas aufzuwärmen. Ich bitte sie um Himmelswillen, machen sie jetzt bloß keinen Krawall.”
Der Unteroffizier schien zu begreifen: “Wen haben sie da drinnen?”, verlangte er barsch zu wissen, “Amis?” Mutter sah jeden einzelnen an. “Hört mal”, sagte sie langsam, “Ihr könntet meine Söhne sein, und die da drinnen auch. Einer von ihnen ist verwundet, und der ist gar nicht gut dran. Und die beiden anderen sind so hungrig und müde wie ihr. Es ist Heiligabend”, sie sprach jetzt zu dem Unteroffizier, “und hier wird nicht geschossen!” Der starrte sie an. Für zwei, drei endlose Sekunden hörte man nur den Wind. Ich stand da und bibberte, doch Mutter nutzte den Moment: “Genug geredet!”, sagte sie entschlossen, “legt das Schießzeug da auf das Holz und kommt schnell rein, sonst essen die anderen alles auf.”
“Tut, was sie sagt”, knurrte der Unteroffizier, “wir haben Hunger.” Wortlos legten sie ihre Waffen in den winzigen Schuppen, in dem wir unsere Holzscheite aufbewahrten: drei Karabiner, zwei Pistolen, ein leichtes MG und zwei Panzerfäuste. Währenddessen war den Amerikanern nicht verborgen geblieben, dass eine Gruppe “Krauts” vor der Türe stand und mit dem Mut der Verzweiflung waren sie willens, sich zur Wehr zu setzen. Mutter sprach indessen hastig mit Jim auf Französisch. Er sagte etwas zu Ralph, und ich sah erleichtert, wie auch die Amerikaner mit sich reden ließen. Sie machten mit!
Als nun alle in der kleinen Stube waren, schienen sie etwas ratlos zu sein. Wie man sich als Soldat in einer solchen Situation verhält, hatten ihre Ausbilder nicht mit ihnen besprochen. Mutter war währenddessen in ihrem Element. Lächelnd suchte sie für jeden einen Sitzplatz. Wir hatten nur drei Stühle, aber Mutters Bett war groß. dorthin setzte sie zwei der später Gekommenen, neben Jim und Ralph. Man schwieg sich an, es lag eine Gespanntheit in der Luft, die sich auf alle übertrug. Mutter machte sich wieder ans Kochen. Aber unser Hahn wurde dadurch nicht größer, und wir hatten vier Esser mehr. “Rasch”, flüsterte sie mir zu, “wasch mir noch ein paar Kartoffeln und schneide sie zweimal durch. Und hol’ noch etwas Haferflocken. Wenn wir die Jungen erst einmal satt haben, wird sich alles geben.”
Während ich bei unsren Vorräten war, hörte ich Harry laut aufstöhnen. Einer der Deutschen setzte seine Brille auf und beugte sich über die Wunde des Amerikaners. “Sind sie Sanitäter?”, fragte Mutter. “Nein”, erwiderte er, “aber ich habe bis vor wenigen Monaten in Heidelberg Medizin studiert.” Dann erklärte er den Amerikanern in, wie mir schien, recht fließendem Englisch, Harry’s Wunde sei dank der Kälte nicht entzündet. “Er hat sehr viel Blut verloren”, sagte er zu Mutter. “Er braucht jetzt einfach Ruhe und kräftiges Essen.” Die Spannung hatte sich gelöst. Selbst mir kamen die Soldaten, als sie so neben einander saßen, alle noch sehr jung vor.
Der Unteroffizier war mit seinen dreiundzwanzig Jahren der älteste. Am linken Ärmel seiner Uniformjacke trug er den Kubanschild, der ihn als Ostfrontkämpfer auswies. Aus seinem Brotbeutel nahm er eine Flasche Rotwein, und ein anderer brachte ein großes Stück Kommissbrot auf den Tisch, das Mutter in Scheiben schnitt. Von dem Wein füllte sie etwas in einen Becher, “für Harry”. Der Rest wurde unter uns aufgeteilt. Zwei Kerzen flackerten auf dem Tisch, dazwischen stand der Kessel mit der dampfenden Suppe, auf einem Teller lag das geschnittene Brot und jeder hatte etwas Wein. Ich hatte zwischen Jim und Ralph Platz gefunden.
Am Kopfende saß Mutter auf einer improvisierten Sitzgelegenheit. Auf sie waren jetzt alle Blicke gerichtet. In meinem Elternhaus war es nicht üblich gewesen, vor dem Essen gemeinsam zu beten. Mit uns am Tisch saßen normalerweise die Gesellen, der Lehrling und die Hausgehilfin. Wer da beten wollte, der tat das still für sich. Das war nun alles anders. Es war eine gehobene, fast feierliche Stimmung. Und niemand wäre es eingefallen, sich ohne weiteres über die Mahlzeit herzumachen. Ralph erfasste die Hände der neben ihm Sitzenden, Jim tat das gleiche, und schon saßen wir alle nach amerikanischer Sitte händehaltend um den Tisch, um unser aller Herrgott zu danken. Mutter sprach für uns in ergreifender Inständigkeit, sie schloss mit den Worten: “Und bitte, mach’ endlich Schluss mit diesem Krieg.” Als ich mich in der Tischrunde umsah, bemerkte ich einige Tränen, die sich den Kriegern aus den Augen stahlen. Niemand schämte sich, sie alle hatten sich ihre Menschlichkeit bewahrt. Nun waren sie ganz einfach wieder die jungen Söhne ihrer sich um sie sorgenden Eltern, die einen aus Amerika, die anderen aus Deutschland, alle fern von zu Hause.
Nach dem Essen gab es starken amerikanischen Nescafé und Ananaspudding, den Jim in kleinen olivgrünen Dosen aus seiner weiten Manteltasche holte. Dann wurden Zigaretten ausgetauscht, hier “Eckstein”, dort “Chesterfield” und schon hatte jeder der Gäste eine im Mund. Doch der um Harry besorgte Medicus sprach ein Machtwort: “Get out, an die frische Luft!” Draußen war eine vor Kälte klirrende, strahlende Winternacht. Der Himmel war mit Sternen übersät und Mutter forderte uns auf, den am hellsten leuchtenden, den Sirius, anzusehen: “Das ist unser Stern von Bethlehem, der kündigt den Frieden an.” Niemand sprach ein Wort. Aus der Ferne drang das dumpfe Bollern schwerer Artillerie an unsere Ohren. Dennoch schien uns jetzt der Krieg sehr weit und fas vergessen. Dann gingen wir schlafen, die Soldaten auf dem Fußboden auf ihren dicken Mänteln, ich fand in Mutters Bett noch Platz.
Harry erwachte im Morgengrauen und Mutter flößte ihm etwas ein. Sie hatte aus amerikanischem Eipulver, dem Rest Rotwein und viel Zucker eine Krafttrunk gequirlt, der es in sich hatte. Ob es auch schmackhaft war, erfuhr ich nie, doch Harry war bei Tagesanbruch sichtlich kräftiger. Zum Frühstück aß er mit uns anderen den Rest der Hühnersuppe. Dann wurden aus zwei starken Stöcken und einer deutschen Zeltbahn eine Trage für Harry gemacht. Der Unteroffizier zeigte Jim und Ralph auf einer Karte den Weg zu den amerikanischen Linien. Ein deutscher Kompass wechselte den Besitzer. “Passt auf, wie ihr geht. Viele Wege sind vermint. Und wenn ihre eure Jabos kommen hört, winkt wie der Teufel!” Der Mediziner übersetzte alles ins Englische. Dann bewaffneten sie sich wieder, und es folgte der Abschied. Herzlicher konnte es auch unter Freunden nicht sein! Sie umarmten sich fröhlich, man versprach, sich wiederzusehen: “As soon as this dam’n war is over!” Jim und Ralph küssten Mutters Wangen, Harry wurde auf seine “Sänfte” gesetzt, und mit Hallo, aber auch mit etwas Wehmut trennten sich unsere Wege.
Manchmal drehten sie sich um und winkten. Wir schauten ihnen nach, bis sie im Wald verschwunden waren. “Das sind Menschen genau wie wir”, sagte der Unteroffizier halblaut.
Den Krieg und jene Nacht in den Ardennen vergaß ich nie. Oftmals, wenn ich am winterlichen Tropenhimmel den hell glitzernden Sirius erblicke, scheint er mich zu grüßen wie einen alten Freund. Unwillkürlich gedenke ich dann meiner Mutter und jener jungen Soldaten, die als Feinde zusammentrafen und als Kameraden auseinandergingen.
Autorin: Eine „Oma gegen rechts“, https://omasgegenrechts-nord.de/2019/12/08/winternacht-in-den-aedennen-eine-wahre-weihnachtsgeschichte-von-1944/