FAZ-Beitrag von UN-Menschenrechtskomissar

FAZ-Beitrag von UN-Menschenrechtskomissar

"Nicht jede Kritik an Israel ist antisemitisch"

In der gestrigen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) ist ein Gastbeitrag des UN-Hochkomissars für Menschenrechte, Volker Türk, abgedruckt. Rote Fahne News dokumentiert Auszüge.

Dokumentiert

Europaweit und weltweit gibt es beunruhigende Anzeichen für ein Wiederaufleben des Antisemitismus, von Angriffen auf Jüdinnen und Juden über Drangsalierungen im öffentlichen Raum zur zunehmenden Verbreitung von Hass im Internet und weiteren Vorfällen. Einer Umfrage unter in Europa lebenden Jüdinnen und Juden zufolge hatten fast alle von ihnen im Vorjahr Antisemitismus erfahren, und die Mehrheit verheimlichte hin und wieder ihre jüdische Identität. Dies sollte in uns allen Beunruhigung und Entsetzen auslösen.

 

Die Menschen in Europa wissen besser als alle anderen, wohin Hetze und Diskriminierung führen. Antisemitismus ist ebenso real wie abscheulich: eine toxische Ideologie mit tiefen Wurzeln in Bigotterie und Rassismus, unter der unsere Welt nach wie vor leidet. Antisemitismus hat viele Erscheinungsformen, die von Vorurteilen und Stigmatisierung zu Pogromen und im Äußersten zum Völkermord reichen. Achtzig Jahre nach dem Holocaust tragen wir eine besondere Verantwortung dafür, Wachsamkeit gegenüber dieser tödlichen Geißel zu üben, wo immer sie auftritt. ...

 

In den 14 Folgemonaten (seit dem 7. Oktober 2023, d. Red.) wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza mehr als 44.000 Palästinenserinnen und Palästinenser bei israelischen Militäroperationen getötet. Nach Erkenntnissen meines Büros waren die große Mehrheit der verifizierten Todesopfer Kinder und Frauen, was von einer manifesten Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben von Zivilpersonen zeugt. Darüber hinaus sind die israelischen Behörden ihrer Verpflichtung, den massiven humanitären Bedarf in Gaza zu decken, nicht nachgekommen.

 

Dies hat dazu geführt, dass Gaza in Tod und Verzweiflung erstickt und in ungeklärten Abwässern und Krankheiten versinkt. Israels Politik in Gaza ist durch schwere Verstöße gegen das Völkerrecht gekennzeichnet, die ich wiederholt verurteilt habe. Ich habe Zeit mit israelischen Überlebenden und Angehörigen der am 7. Oktober entführten Geiseln wie auch mit Palästinenserinnen und Palästinensern verbracht, die in Gaza schreckliche Verletzungen und Traumata erlitten haben.

 

Die israelische Politik, die zu der Katastrophe in Gaza beigetragen hat, wurde und wird auch von vielen, darunter auch von Israelis und Jüdinnen und Juden in aller Welt, scharf kritisiert. In einigen Fällen überschritt diese Kritik die Grenze zum Antisemitismus, wenn beispielsweise alle Jüdinnen und Juden für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht wurden. ...

 

Ich lehne Versuche ab, jede Kritik an der Politik und den Militäroperationen der israelischen Regierung mit Antisemitismus gleichzusetzen. So ist es nicht antisemitisch, Militäroperationen anzuprangern, die schwere Bedenken wegen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsnormen hervorrufen. Auch ist es nicht antisemitisch, diese Verstöße zu verurteilen und auf die Achtung des Rechts – einschließlich der Entscheidungen internationaler Gerichte – zu drängen. ...