Ukrainekrieg

Ukrainekrieg

Setzen Russland oder die Ukraine Chemiewaffen ein?

Der Journalist Nils Thomas Hinsberger betitelte seinen Bericht mit wenig Zurückhaltung. „Tausende Ukraine-Soldaten durch Chemiewaffen vergiftet“, so schreibt er gestern in der Frankfurter Rundschau. Was dahinter steckt? Unsere Recherche fördert Überraschendes zu Tage. Laut Artem Wlasiuk, Leiter der Abteilung für Umweltsicherheit und Zivilschutz der ukrainischen Streitkräfte, sollen etwa 2000 ukrainische Soldaten Opfer der Chemiewaffen geworden sein.

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Setzen Russland oder die Ukraine Chemiewaffen ein?
Giftgas ist eine Waffe, die berechtigt Angst und Schrecken verbreitet: Sie tötet Mensch und Tier, Soldat und Kind ohne Unterschied. Deswegen ist der Einsatz von Chemiewaffen international geächtet. (Bild: Frank Tunder)

Dabei seien „Reizstoffe wie CS und CN, die in Munition zur Aufstandsbekämpfung verwendet werden“, zum Einsatz gekommen, wie Wlasiuk bei einer Pressekonferenz am Freitag (13. Dezember) von der Kyiv Post zitiert wird.

 

Er wiederum verweist auf einen Bericht der Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW, deutsch „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“), die zwei Bodenproben und eine Granatenhülse analysierte und dort diese Chemikalien fand. Die Proben sollen aus dem Dorf Illinka stammen, 50 km westlich von Donezk – aktuell kurz hinter der Front.

Urheber unbekannt

Was weder Wlasiuk noch Hinsberger erwähnen, ist, dass der Bericht überhaupt keine Aussage darüber macht, wer diese Chemikalien eingesetzt haben könnte, sondern nur feststellt, dass beide Seiten einander wiederholt beschuldigt haben.

 

Dementsprechend hatten am 19. November, einen Tag nach der Veröffentlichung des OPCW-Berichts, die russischen Medien ebenfalls von dem Vorfall berichtet. Allerdings warfen sie der Ukraine vor, die Chemikalien eingesetzt zu haben.

 

Sowohl die russischen, als auch die ukrainischen und deutschen Berichte sind entweder sehr allgemein oder sehr konkret, was die Natur der eingesetzten Chemiewaffen angeht: „Munition zur Aufstandsbekämpfung“,„verbotene Substanzen“ oder sie nennen einfach die chemischen Formeln. Wenn man die nicht kennt, entsteht natürlich der Eindruck, es sei Giftgas eingesetzt worden.

 

Bei den in Spuren nachgewiesenen Chemikalien handelt es sich jedenfalls um 2-Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril (CS) sowie ω-Chloracetophenon (CN) – also handelsübliches Tränengas.

Nur Tränengas: Viel Aufregung um nichts?

Formal betrachtet ist es natürlich richtig, dass auch Tränengas ein chemischer Stoff ist und damit unter das Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ) von 1993 fällt. Insofern ist es auch ein Tabubruch, wenn es als Waffe im Kriegseinsatz verwendet wird. Damit fängt es an und kann beziehungsweise wird sich auf weitere, noch schlimmere bis tödliche Chemiewaffen ausweiten.

 

Gleichzeitig fällt es den Autoren des Artikels schwer, Russland oder die Ukraine gerade dann zu verurteilen, wenn sie ausnahmsweise mal keine tödlichen Waffen eingesetzt haben. Eigentlich ist das absurd: Während Soldaten legal und unaufgeregt - weil branchenüblich - von Artillerie zerfetzt werden, wird aus dem mutmaßlichen zweckfremden Einsatz von Tränengas ein Kriegsverbrechen gemacht. Ein Gas, das andernorts, auch von der bundesdeutschen Polizei, bedenkenlos gegen Protestierende und andere Zivilisten eingesetzt wird.

 

Dennoch werden solche gegenseitigen Vorwürfe benutzt, um die Kriegsstimmung anzuheizen, das als Feind definierte Volk zu verhetzen und damit weitere, viel tödlichere Schritte zu rechtfertigen. Dass beide Seiten diese Gelegenheit schamlos ergreifen, ist die Vorbereitung einer weiteren Verschärfung.