Zehntausende desertieren
Zunehmende Kriegsmüdigkeit in Ukraine und Russland
Allein im ersten Halbjahr 2024 leiteten ukrainische Behörden 29.000 neue Strafverfahren wegen Fahnenflucht ein. Die Berliner Zeitung rechnete nach: „Vergleicht man die Fälle mit den von Präsident Wolodymyr Selenskyj öffentlich angegebenen Soldatenzahlen, dann steht fest: Jeder 14. Soldat der ukrainischen Streitkräfte desertiert.“
Die Zahlen veröffentlichte die Deutsche Welle (DW). Sie zitiert die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft. Gegen 18.000 Soldaten habe es ein Verfahren wegen unerlaubten Verlassens ihrer Einheiten (im deutschen Militär-Jargon als „unerlaubtes Entfernen von der Truppe“ bekannt) gegeben, gegen 11.000 wurde sogar wegen Fahnenflucht ermittelt. Der Trend geht nach oben: Im gesamten Jahr 2023 wurden 24.000 Verfahren eingeleitet, 2022 waren es unter 10.000. Seit Kriegsbeginn also etwa 63.000 Soldaten – gut 13 Brigaden in Sollstärke.
In Russland wurden seit Beginn des Ukraine-Kriegs 11.700 Fälle vor Garnisonsgerichten verhandelt. Seit März 2023 stieg die Zahl der Fälle jedoch rasant an. Im Juli 2024 gab es laut dem russischen oppositionellen Investigativ-Netzwerk „iStories“ jeden Werktag 40 neue Fälle, die höchste Dichte solcher Fälle während des Krieges. Jedoch muss man sowohl zu den russischen als auch den ukrainischen Zahlen sagen, dass die Verfahren im allgemeinen unter der tatsächlichen Zahl der Desertationen liegen. Das Hauptaugenmerk beider Seiten liegt darauf, die Soldaten an der Front zu halten. Kehrt ein Soldat zurück, wird meistens kein Verfahren eröffnet. Wenn ein Soldat als vermisst gemeldet wird, geht er ebenfalls nicht in die Statistik ein.
Während in der Ukraine die Zwangsrekrutierungen ein immer abschreckenderes Ausmaß erreichen, kann es sich die russische Regierung immer noch leisten, auf eine zweite Mobilisierung zu verzichten, lässt sich das aber viel kosten. Das neueste Lockmittel: Wer sich zum Kriegsdienst meldet, kann einen Schuldenerlass erhalten. Interfax berichtete, dass Wladimir Putin unterzeichnete ein Gesetz, demzufolge Rekruten, die einen Einjahresvertrag unterschreiben, Schulden in Höhe von bis zu zehn Millionen Rubel (ca. 100.000 Euro) erlassen werden können. Das soll auch für die Ehepartner der Rekruten gelten.