Interview Rote Fahne 23/2024

Interview Rote Fahne 23/2024

Reaktionäres Sicherheitspaket „untergräbt die Menschenwürde und ist völkerrechtswidrig“

Was bedeuten die bisher im Rahmen des "Sicherheitspakets" der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen? Hierzu sprach die Rote Fahne mit Philip Dingeldey und Carola Otte von der Humanistischen Union. Hier können Sie das Interview in voller Länge lesen:

Rote Fahne: Was bedeuten die bisher beschlossenen Maßnahmen für die Praxis von Polizei und Geheimdiensten?

 

Philip Dingeldey: Das vom Bundestag verabschiedete sogenannte Sicherheitspaket besteht aus zwei Teilen. Es ist eine direkte Reaktion auf das Attentat in Solingen und eigentlich eher ein Unsicherheitspaket. Im einen Teil des Pakets geht es um das Asylrecht. Demnach soll Asylbewerbern künftig der Schutz aberkannt werden, wenn sie Straftaten mit fremdenfeindlichem oder menschenverachtendem Beweggrund begangen haben. Auch wenn Schutzberechtigte in ihr Heimatland reisen, soll ihr Schutzstatus aufgehoben werden. Asylsuchenden, für deren Asylantrag ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist, sollen zukünftig nach zwei Wochen alle Sozialleistungen gestrichen werden. Außerdem soll das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge biometrische Daten abgleichen dürfen, um die Identität von Asylbewerbern zu prüfen. Dieser Teil des Pakets wurde vom Bundestag verabschiedet und als Einspruchsgesetz gestaltet, so dass es beim Bundesrat nicht zustimmungspflichtig ist. Das ist eine Verschärfung des Asylrechts. Es untergräbt die Menschenwürde und ist völkerrechtswidrig. Die Ausweitung anlassloser Kontrollen durch die Polizei ist ein Einfallstor für Racial Profiling. Das ist diskriminierend und stützt autoritäre Narrative, demzufolge die staatliche Autorität die Menschen vor dem Anderen, hier eben Flüchtlinge, schützen solle. Damit wird die fremdenfeindliche Stimmung in Deutschland verschärft.

 

Im zweiten Teil geht es um die Befugnis zum biometrischen Abgleich des gesamten Internets mit Bildern und Stimmen von Tatverdächtigen oder gesuchten Personen. Bundeskriminalamt und Bundespolizei sollen diese Befugnis nicht nur zur Bekämpfung von Terrorismus, sondern auch als neues Standardinstrument erhalten. Hinzu kommen mehr Orte mit Messerverboten. Die biometrische Überwachung mit Hilfe sogenannter KI-Tools ist technisch nur möglich, wenn riesige, unterschiedslose Gesichtsdatenbanken angelegt werden. Solche Datenbanken sind aber nach Artikel 5 des AI-Acts der EU verboten, da sie Massenüberwachung ermöglichen und zu schweren Verstößen gegen die Grundrechte, einschließlich des Rechts auf Privatsphäre und des Datenschutzes, führen werden. Hier ist also nicht nur die Missbrauchsgefahr überaus hoch, sondern die Grundrechte aller Menschen sind betroffen, von denen z.B. Bilder im Internet veröffentlicht wurden. Zwar hat der Bundesrat diesen Teil des Pakets abgelehnt, aber nur deshalb, weil ihm die Befugnisse nicht weit genug gingen. Die Gefahr ist also groß, dass es im weiteren Verlauf zu einer solchen Massenüberwachung kommt.

 

Tatsächlich schafft ein solches Paket aber nicht mehr Sicherheit, sondern nur staatliche Repression und somit einen Freiheitsverlust. Die politiktheoretisch vereinfachte Gegenüberstellung von Freiheit und Sicherheit ist also falsch, denn wann sorgt Repression für Sicherheit der Bevölkerung, wenn diese sich vor Überwachung oder Abschiebung fürchten muss? Wir haben immer wieder festgestellt, dass eine solche menschenrechtswidrige Repression zuerst an marginalisierten Gruppen, wie Flüchtlingen, erprobt wird, bevor die gesellschaftliche Mehrheit auch davon erfasst wird. Wir fordern daher ein Verbot biometrischer Überwachung und lehnen Einschnitte in Grundrechte wie die Ideen zur automatisierten Datenanalyse, die anlasslose IP-Adressdatenspeicherung, Videoüberwachung und Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, Onlinedurchsuchungen für den sogenannten Verfassungsschutz und die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ab.

 

Rote Fahne: Welche Verschärfungen werden diskutiert?

 

Philip Dingeldey: Die biometrische Massenüberwachung wurde durch den Bundesrat abgewendet. Die Gefahr ist damit aber nur aufgeschoben, denn gefordert werden härtere Maßnahmen. Das Unsicherheitspaket sieht eine biometrische Massenüberwachung bei besonders schweren Straftaten vor, und bei Gefahr im Verzug sollten der BKA-Chef oder einer der Vize die Anordnung für maximal drei Tage treffen. Das war der Mehrheit im Bundesrat nicht extrem genug. So kritisiert die CDU/CSU, dass dies nur bei besonders schweren Straftaten greifen sollte. Wenn also nun der Ermittlungsausschuss eine Einigung zwischen Bundestag und Bundesrat erzielen soll, könnte es hier dazu kommen, die biometrische Fernidentifizierung auch schon bei schweren Straftaten zu erlauben oder dass die Anordnung durch das BKA länger als drei Tage gelten könnte.

 

Carola Otte: Die aktuelle Diskussion um das Sicherheitspaket wird außerdem genutzt, um wieder Staatstrojaner und die grundrechtswidrige Vorratsdatenspeicherung ins Spiel zu bringen, die mit diesem Gesetzentwurf gar nichts zu tun hat. Nicht nur die CDU/CSU fordern dies, auch unsere Bundesinnenministerin sieht entgegen dem Koalitionsvertrag Möglichkeiten für einen weiteren Anlauf, die Vorratsdatenspeicherung einzuführen. Damit fällt sie dem Bundesjustizministerium in den Rücken, das gerade das Quick-Freeze-Verfahren auf den Weg bringt, um einen grundrechtsschonenderen Ersatz für die Vorratsdatenspeicherung zu institutionalisieren.

 

Philip Dingeldey: Aber selbst, wenn dieser Teil des Pakets nicht mehr durchgehen sollte, führt auch die biometrische Identifizierung von Flüchtlingen durch das BAMF jetzt schon zur Massenüberwachung, da für den Abgleich massenweise biometrische Daten verwendet werden müssen. Davon sind nicht nur Asylsuchende betroffen, und im Gesetz ist nicht genau geregelt, inwiefern selbstlernende Systeme zum Abgleich verwendet werden und welche Anforderungen diese erfüllen müssen.

 

Rote Fahne: Was ist aus Ihrer Sicht jetzt wichtig?

 

Carola Otte: Für das Bündnis im Ganzen können wir nicht sprechen. Die Humanistische Union begleitet den weiteren Gesetzgebungsprozess kritisch. Wir sehen mit Sorge, wie immer wieder reflexhaft als Reaktion auf aktuelle Ereignisse Strafgesetze verschärft und Überwachungsbefugnisse erweitert werden, bei denen leider oft viel zu wenig über die Implikationen für alle Bürgerinnen und Bürger nachgedacht wird. Auch die demokratischen Beteiligungsprozesse leiden stark unter solchen übereilten Gesetzgebungen. Insgesamt ist es nämlich wichtig, dass zivilgesellschaftliche Organisationen nicht nur auf solche Gesetze reagieren und davor warnen können, sondern sie auch selbst Vorschläge einbringen können. Das würde aber ein Interesse von Politik und Medien an solchen Vorschlägen voraussetzen. Konkret erarbeiten wir momentan eine Stellungnahme zum geplanten Quick-Freeze-Verfahren. Es ist zu außerdem befürchten, dass es auf Druck des Bundesrats wieder zur Vorratsdatenspeicherung kommen kann.

 

Vielen Dank für das Interview!