Interview mit Gerd Pfisterer

Interview mit Gerd Pfisterer

Das Streikrecht muss ein Grundrecht der Arbeiterklasse sein

Das folgende Interview mit Gerd Pfisterer, einem der Streikführer im Streik der Rheinhausener Stahlarbeiter 1988, führte die Rote Fahne Redaktion kürzlich. Gerd Pfisterer war als einziger nicht freigestellter Betriebsrat in der Stahlindustrie einer der Streikführer in dem Streik der 6000 Rheinhausener Stahlarbeiter 1988 mit dem Höhepunkt des achttägigen selbständigen Streiks im April.

Das Streikrecht muss ein Grundrecht der Arbeiterklasse sein
Gerd Pisterer heute (rf-foto)

Rote Fahne: Aktuell gärt es in der Stahlindustrie und in der Autoindustrie. Zigtausende Arbeitsplätze sollen vernichtet werden. Das deutsche Streikrecht verbietet bekanntermaßen Streiks außerhalb der Tarifrunde. Wie siehst Du als einer der Streikführer des Streiks der Stahlarbeiter von Duisburg-Rheinhausen 1988 die Frage des Streikrechts in Deutschland?

Gerd Pfisterer: Das Streikrecht muss ein Grundrecht der Arbeiterklasse sein. Im Kapitalismus können die Arbeiter nur kollektiv, durch Verweigerung ihrer Arbeitskraft, Einfluss auf ihre Löhne und Arbeitsbedingungen nehmen. Das ist jedoch nur die eine Seite. Die Arbeiterklasse ist im Kapitalismus auch eine politisch unterdrückte Klasse. Die bürgerliche Demokratie ist nur eine Nebelwand, die die Diktatur der Monopole über die gesamte Gesellschaft verschleiern soll. Um die Ausbeutung und Unterdrückung zu beenden, die politische Macht der Monopole zu beseitigen, müssen die Arbeiter immer besser lernen, sich in die politischen Angelegenheiten einzumischen. So wie z.B. Hafenarbeiter in Italien, Griechenland und anderen Ländern sich geweigert haben, Waffen nach Israel zu verladen. Auch werden die dringend notwendigen Schutz- und Sofortmaßnahmen im Kampf gegen die begonnene globale Umweltkatastrophe ohne politische Streiks und soziale, ökonomische und politische Massenkämpfe nicht gegen die Regierung und Monopole durchsetzbar sein. Vor allem die Verbindung des selbständigen Kampfs um soziale und politische Forderungen bringt die Arbeiterklasse und breiten Massen in die Offensive. Das wissen die Monopole und ihre Regierung und fürchten solch eine Entwicklung.


Deshalb haben sie bewusst darauf verzichtet, im Grundgesetz ein allseitiges und vollständiges Streikrecht zu verankern. Deshalb gib es kein „deutsches Streikrecht“. Das Streikrecht wird in Deutschland durch Richterrecht bestimmt, das sich auf den Artikel 9 des Grundgesetzes, das Koalitionsrecht, beruft. Dabei ist der Maßstab bis heute ein Gutachten des ehemaligen Nazi-Juristen Hans Carl Nipperdey von 1952 für die reaktionäre Adenauer-Regierung. Nach diesem Gutachten ist ein Streik ein „rechtswidriger Eingriff in die Rechte eines Gewerbebetriebes“, es sei denn, dem Streik würde ein besonderer Rechtfertigungsgrund nachgewiesen. Darunter verstand Nipperdey den gewerkschaftlich legalisierten Streik unter der Voraussetzung: Er muss gegen die Unternehmer oder deren Vereinigung gerichtet sein, um Arbeitsbedingungen geführt werden und privatrechtlich-arbeitsrechtliche Vereinbarungen, sprich Tarifverträge zum Ziel haben. Ein Streik mit politischen Zielen, zum Beispiel für ein fortschrittliches Betriebsverfassungsgesetz oder gegen die Hochrüstung der Bundeswehr, ist demnach rechtswidrig.


Viele Kollegen finden einen Streik richtig, sind aber der Meinung, dass dies die IG Metall und/oder der Betriebsrat machen müsse. Was sagst Du dazu?

Ein Streik gegen Arbeits- und Ausbildungsvernichtung oder Stilllegung eines Betriebes ist nach der gültigen reaktionären Rechtsprechung rechtswidrig. Dabei berufen sich die Gerichte auf das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Privateigentum. Ein Streik gegen eine Werksstilllegung wäre demnach ein Eingriff in das Grundrecht der Kapitalisten über die freie Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Würde eine Gewerkschaft zu solch einem Streik aufrufen, müsste sie mit ruinösen Regressforderungen rechnen. Das heißt allerdings nicht, dass die Gewerkschaft bei einem selbständigen Streik keine Rolle spielt. Im Gegenteil: So haben z. B. in Rheinhausen Vertrauensleute eine wichtige Rolle bei der Überzeugungsarbeit zur Vorbereitung, Auslösung und Führung eines selbständigen Streiks gespielt. Die Gewerkschaft hat vor allem bei der Organisierung der Solidarität eine wichtige Aufgabe, muss den Streikenden den Rücken frei halten. Der Betriebsrat kann aufgrund des reaktionären Betriebsverfassungsrechts nicht zu einem Streik aufrufen, weil ihn das Gesetz zur „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ mit dem Unternehmen verpflichtet. Das verbietet aber jedem einzelnen Betriebsrat nicht, den Kolleginnen und Kollegen bei der Vorbereitung, Auslösung und Führen eines selbständigen Streiks mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, sich selber klar zu positionieren. Auf keinen Fall ist ein Betriebsrat verpflichtet, sich gegen einen selbständigen Streik zu stellen, wie es Vertreter der Politik der Klassenzusammenarbeit leider tun. Solange die Arbeiter kein allseitiges und vollständiges gesetzliches Streikrecht haben, müssen sie sich dieses Recht nehmen.

 

Kann ein selbständiger Streik, konzernweit und über Konzerngrenzen hinaus, überhaupt ohne feste Organisation erfolgreich sein? Was sind Deine Erfahrungen dazu?

Solch ein Streik muss sich auf die ausgewerteten Erfahrungen der Arbeiterbewegung stützen und darauf aufbauen. Das den Arbeitern zur Verfügung zu stellen, ist die Aufgabe erfahrener Streikführer, wie beim Bergarbeiterstreik 1996, dem Opel-Streik 2004 sowie einer revolutionären Arbeiterpartei, wie die MLPD eine ist. Ein bewusst geführter selbständiger Streik braucht eine Top-Organisation mit einer Streikleitung an der Spitze. Die Streikleitung muss sich auf ein Netz von kämpferischen Kolleginnen und Kollegen im Betrieb stützen. Jeder Streik braucht ein Programm mit den wichtigsten Forderungen und Regeln für die demokratische Streikorganisation. Eine Schwäche im selbständigen Stahlstreik in Rheinhausen war, dass wir mit dem Aufbau einer Streikleitung zu spät angefangen und deshalb auch nicht alle Beschäftigten einbezogen waren. Solch ein Streik braucht aber auch eine breit aufgestellte Solidaritätsbewegung und enges Vertrauensverhältnis zur MLPD. Ohne die Erfahrungen und Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe mit der MLPD hätte es den selbständigen Streik in Rheinhausen nicht gegeben.

 

Vielen herzlichen Dank!