Offene Führungskrise
Die Grünen in der Zerreißprobe
Erneut ein Paukenschlag in der deutschen politischen und Parteienlandschaft: Nach den desaströsen Wahlergebnissen bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland tritt der Grünen-Parteivorstand ab und der der Grünen Jugend gleich mit.
Die beiden Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour führen die Geschäfte bis zum Parteitag im November nur noch kommissarisch und treten nicht mehr zur Wiederwahl an. Das gaben sie gestern auf einer Pressekonferenz bekannt. Sie sehen ihre Partei in der tiefsten Krise seit zehn Jahren.
Aufgestaute Widersprüche entladen sich
Auf dem Hintergrund der offenen politischen Krise in Deutschland sind die Grünen in eine Parteienkrise geraten. In Brandenburg flogen sie aus dem Landtag, jugendliche Wähler mobilisieren sie gar nicht mehr, mangels Biss kriegen sie in der antifaschistischen Bewegung kaum noch einen Fuß auf den Boden. Zwischen der Parteiführung und den grünen Mitgliedern der Ampelregierung - voran Robert Habeck und Annalena Baerbock - knirscht es schon seit langem. Ein Faktor für ihre schlechten Wahlergebnisse ist, dass sie in Ostdeutschland von den Faschisten um Höcke massiv angegangen wurden und es auch vonseiten etlicher Medien eine reaktionäre Hetzkampagne gab. Bei einem Teil der Massen hatte sie auch Einfluss. Zu Recht bekamen die Grünen dagegen Solidarität.
Es geht nicht um persönliche Querelen, sondern um handfeste politische Widersprüche. Die Herrschenden treiben die Rechtsentwicklung voran. Die Monopole fordern von der Regierung noch viel offenere Angriffe auf die Arbeiter und die breiten Massen. Ist die Ampelregierung dazu aus Sicht der Monopole noch in der Lage oder ist ein Wechsel zu einer offener reaktionären Regierung angesagt? Die CDU steht dazu Gewehr bei Fuß, Teile der FDP drängen arauf, aus der Ampel-Koalition auszutreten.
Wirtschaftsminister Robert Habeck ist gewillt, unter allen Umständen an der Regierung zu bleiben und die Forderungen der Monopole umzusetzen. Lang und Nouripour stzten diesen Kurs nicht offensiv genug um. Sie haben beschwichtigt und versöhnt, selbst den ultrareaktionären Kurs in der EU-Flüchtlingspolitik mitgetragen, sich aber teilweise auch kritisch dazu geäußert. Gemunkelt wird, dass vor allem Wirtschaftsminister Habeck kräftig darauf gedrängt hat, dass sie zurücktreten. Habeck bringt seine "rechte Hand", die Parlamentarische Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium als neue Parteichefin ins Spiel. Sie gehört dem rechten Grünen-Flügel an, u.a. hat sie sich dafür stark gemacht, dass das reaktionäre GEAS von den Grünen nicht bekämpft wird.
Als Reaktion auf die Rechtsentwicklung und die faschistische Gefahr in Deutschland entwickelt sich auch eine linke Tendenz, insbesondere im Zusammenhang mit den Arbeiterkämpfen. Das geht auch an den Grünen nicht vorbei. Ein Teil der Mitglieder an der Basis und bisherige Anhänger in der Umweltbewegung begehren gegen die massive Rechtsentwicklung der grünen Führungsriege auf.
Vorstand der Grünen Jugend entwickelt fortschrittliche Kritik
Der zehnköpfige Vorstand der Grünen Jugend um Svenja Appuhn und Katharina Stolla trat ebenfalls zurück; seine Mitglieder erklärten unisono ihren Austritt aus der Partei der Grünen. Ihr Entschluss sei keine Reaktion auf den Rückzug des Parteivorstandes - er reife seit Wochen. „Wir haben in den letzten Jahren immer wieder erlebt, dass die Grünen nicht dazu bereit sind, sich mit den Reichen und Mächtigen anzulegen“, schreibt die ehemalige Spitze der Jugendorganisation in einem Statement. Gescheitert ist die Illusion, sich mit den Mächtigen und Reichen anzulegen und dabei in einer Monopolpartei Politik zu machen. „Wir werden uns danach (nach dem Bundeskongress im Oktober in Leipzig) aufmachen, einen neuen, dezidiert linken Jugendverband zu gründen“, so die zehn Vorstandsmitglieder in dem Brief. Einen linken Jugendverband links von den Grünen gibt es ja schon. Wer die Kritik an der Monopolpartei Grüne konsequent zu Ende denkt, gehört in den Jugendverband REBELLL. Der sich aber auf jeden Fall auch freut, wenn der bisherige Vorstand und Mitglieder der Grünen Jugend beim Aufbau einer sozialistischen Jugendbewegung und der fortschrittlichen Flüchtlings- und Umweltbewegung mitmachen.
Und Olaf Scholz, die Ampel und die SPD?
Der Bundeskanzler hat ein wirklich bemerkenswert dickes Fell. Den Rückzug der Parteiführung seines Koalitionspartners hält er, so sein gestriger Kommentar, für eine rein innergrüne Angelegenheit. Aber auch in seiner SPD wird es trotz des "Wahlsiegs" in Brandenburg rauer und schwieriger, die Menschen zu gewinnen für Rechtsentwicklung, Kriegstüchtigkeit, ultrareaktionäre Flüchtlingspolitik. In einem offenen Brief wenden sich mehrere hundert Mitglieder des linken Parteiflügels gegen die geplante Verschärfung der Asylpolitik, wie sie besonders von Bundesinnenministerin Nancy Faeser verkörpert wird. Inzwischen haben schon tausende den Brief ebenfalls unterschrieben. Mit „Trauer, Wut und Entsetzen“ habe man mitverfolgt, wie führende Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen nach den Anschlägen von Mannheim und Solingen „einen Diskurs der Ausgrenzung und Stigmatisierung mitbefeuert“ hätten. In dem Brief werden die sozialdemokratischen Mitglieder der Bundesregierung und des Bundestags aufgefordert, sich wieder „für eine humane Asylpolitik einzusetzen, die keine rechten Fantasien von geschlossenen Grenzen reproduziert und (...) internationale Solidarität achtet“.