Interview zu "Wupperschatten"

Interview zu "Wupperschatten"

Lilian Muscutt: "Alle Menschen, die sich gegen den NS-Terror auflehnten, verdienen höchsten Respekt und Anerkennung"

Die Solinger Schriftstellerin Lilian Muscutt kehrte nach einem Studium in England vor zwanzig Jahren zurück in ihre Heimatstadt und entdeckte Solingen aus neuer Perspektive. Seit 2009 schreibt sie Bücher: "Die Klingenstadt hat viel zu erzählen, finde ich. Solingen offenbart seine spannenden Seiten jenseits von Hauptstraßen in Hofschaften, Bachtälern, Wäldern – und vor allem an der Wupper. Dort im 'Kleinen' liegen große Themen verborgen."

Lilian Muscutt: "Alle Menschen, die sich gegen den NS-Terror auflehnten, verdienen höchsten Respekt und Anerkennung"
Die Autorin mit ihrem Roman "Wupperschatten". Das Buchcover hat "rauschgold coverdesign" gestaltet. Die Bildrechte für das Autorenfoto liegen bei Lilian Muscutt.

Wir freuen uns sehr, dass wir ein Interview mit Lilian Muscutt über ihren jüngsten Roman "Wupperschatten" veröffentlichen können. Christoph Gärtner, Leiter des Willi-Dickhut-Museums in Gelsenkirchen, hat das Interview mit Lilian Muscutt geführt. Und es ist kein Zufall, dass es zwei Tage vor dem 120. Geburtstag von Willi Dickhut erscheint ...

 

 

Christoph Gärtner: Worum geht’s in deinem dritten Roman „Wupperschatten“?

 

Lilian Muscutt: In einem verfallenen „Kotten“ - so heißen bei uns in Solingen Schleiferwerkstätten - findet ein Schleifer eines Morgens die Überreste eines Menschen. Wer war der Tote? Das will Reporter Udo Moosbach herausfinden. Bei seinen Recherchen helfen ihm die „Heiligen Drei Könige“, eine chaotische Männer-WG aus seiner Solinger Nachbarschaft. Außerdem ermittelt Kriminalkommissarin Ceylan Karadeniz. Schnell wird klar, dass einige Personen sehr viel mehr wissen, als sie bereit sind preiszugeben. Nachforschungen führen Reporter Moosbach und Kommissarin Karadeniz weit in die Vergangenheit der Klingenstadt. In Rückblicken in die 1930er- bis in die 1960er-Jahre erfahren die Lesenden viel über den erbitterten Widerstand, den kommunistisch gesinnte Frauen und Männer aus dem einstigen „roten“ Solingen gegen Hitler leisteten und wie sie später in der jungen Bundesrepublik kriminalisiert wurden. Ihre einstigen Peiniger - darunter ehemalige, hochrangige Hitler-Schergen und Kriegsverbrecher - wurden dagegen in Spitzenpositionen des neu gegründeten westdeutschen Staates befördert und übten dort unbescholten Macht aus.

 

Christoph Gärtner: Du würdigst in deinem Roman die antifaschistische Widerstandsarbeit der Solinger Kommunisten. Warum? Denn das unterscheidet sich ja deutlich von der üblichen bürgerlichen Hervorhebung von Widerstandskämpfern wie zum Beispiel Graf Stauffenberg, Goerdeler ...

 

Lilian Muscutt: Alle Menschen, die sich gegen den NS-Terror auflehnten, verdienen höchsten Respekt und Anerkennung - unabhängig von Religion, Geschlecht oder politischer Haltung. Leider findet der Widerstand kommunistischer Gruppen - zu denen auch jüdische Menschen zählten - bis heute kaum Beachtung in der breiten Öffentlichkeit. Ich finde es verstörend, dass keine kommunistischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfer in demselben Atemzug mit Stauffenberg und Goerdeler genannt werden. Mag sein, dass dies nicht zum Zeitgeist der BRD der 1950er- und 1960er-Jahre passte, die vom Kalten Krieg und unzähligen „ehemaligen“ Nazis geprägt wurde, die wiederum den Staat mitaufgebaut hatten und das dominierende Meinungsbild mitbestimmten. Aber warum wird heute immer noch so beharrlich über den kommunistischen Widerstand geschwiegen? Die Frage müssen andere beantworten. Ich vermute: Würde man kommunistischen Widerstandsgruppen aus der NS-Zeit endlich die Anerkennung geben, die sie verdienen, würde das eine überholte, aber immer noch weit verbreitete Vorstellung ins Wanken bringen: Die vom „bösen Dämon“ namens Kommunismus auf der einen und der „guten“, jungen Bundesrepublik auf der anderen Seite. Letztere wird aus meiner Sicht immer noch viel zu sehr idealisiert und verklärt.

 

Christoph Gärtner: Du verarbeitest in freier Form auch viele Episoden aus einem Buch des Solinger Kommunisten und antifaschistischen Widerstandskämpfers Willi Dickhut. Was hat dich dazu bewogen?

 

Lilian Muscutt: Ich habe mich bei meinen Recherchen von einer Vielzahl völlig unterschiedlicher Quellen inspirieren lassen. Ich fühle mich keinem politischen Lager eindeutig zugehörig. Mich interessieren Vielfalt und Koexistenz von Perspektiven. Darunter fallen Sichtweisen von Menschen, die an den Kommunismus glauben. Eine Auswahl der Quellen ist im Anhang meines Romans aufgeführt. Darunter ist Dickhuts Buch „So war's damals: Tatsachenbericht eines Solinger Arbeiters 1926-1948“. Es stand bei meinem Vater im Regal. Er hat es mir geliehen. Anfangs wirkte Willi Dickhuts Sprache auf mich befremdlich. Ultralinke mögen dessen Sprache als „kämpferisch“ empfinden. Auf mich klingt sie hier und da aggressiv - auch wenn sie im damaligen Kontext nachvollziehbar ist. Dickhut war ja von der „Klassenkampf-Rhetorik“ der Weimarer Republik geprägt. Sein Werk ist ungeschliffen, subjektiv und irgendwie auch schroff. Aber das macht es ja gerade zu einer so wertvollen Lektüre. Dickhuts „Tatsachenbericht“ ist eine Schatztruhe voller lebendiger Erinnerungen und detailreicher Schilderungen über ein zu wenig beachtetes Stück Zeitgeschichte, den Antifaschismus. Einige besonders faszinierende Episoden habe ich literarisch verarbeitet. Ich habe sie bewusst verfremdet und in andere „Sprache“ übertragen - eine, die viele unterschiedliche Menschen im Herzen erreichen soll. Ob mir das gelungen ist, müssen die Lesenden entscheiden.

 

Christoph Gärtner: Welche Schilderungen in „So war's damals: Tatsachenbericht eines Solinger Arbeiters 1926-1948“ haben dich am meisten fasziniert?

 

Lilian Muscutt: Ein Beispiel. Mitte der 1930er-Jahre behaupteten Nazis, dass eine Solinger Gruppe Antifaschisten die Müngstener Brücke angeblich in die Luft jagen wollte. Die Gruppe wurde verhaftet - darunter war mein Urgroßvater. Die Anschuldigungen waren Lüge und Vorwand, um Hitler-Gegner einzusperren. Diese „Geschichte“ erzählte mir meine Großmutter, als ich ein Kind war. Ich freute mich sehr, als ich diese Episode in Willi Dickhuts „Tatsachenbericht“ samt der namentlichen Erwähnung meines Urgroßvaters entdeckte. Er widmet dem Vorfall einige Seiten. Unsere schöne Müngstener Brücke ist nur eins der vielen starken Bilder in Dickhuts Lebenserinnerungen. Dickhut ermöglicht darüber hinaus tiefe Einblicke in den antifaschistischen Widerstand. Es ist zutiefst bewegend, welchen unfassbaren Mut und Einfallsreichtum Frauen und Männer sogar noch dann bewiesen, als das Überwachungs- und Terrorsystem der Nazis weit fortgeschritten war. Jeder noch so kleine Verdacht konnte den Tod bedeuten. Dickhut berichtet vom sogenannten „Schießscheibenschema“, das sich Arbeiter ausgedacht hatten. Eine Form des Widerstands, eine Argumentationskette, die mündlich erfolgte. Das geschah in einer späteren Phase, als Hitler-Gegner die Zweckmäßigkeit von Flugblatt-Aktionen wegen ihres mangelnden Erfolgs anzweifelten.

 

Christoph Gärtner: Auch in der gegenwärtigen Zeitschiene positioniert sich dein Roman meines Erachtens in populärer Form klar gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und den immer noch vorherrschenden Antikommunismus. Sehe ich das richtig?

 

Lilian Muscutt: Ja, das stimmt. Ich denke, ich habe viel Wut verarbeitet, die ich als Jugendliche verspürt habe. Da waren Erlebnisse in meiner Familie, die mich prägten: Die Wut darüber, wie in einer Demokratie friedliebende Menschen attackiert werden, bloß weil sie mit ihrer Meinung vom Durchschnitt abweichen. Zum anderen waren da Erlebnisse im Freundeskreis: Ich erinnere mich gut an die 1990er-Jahre und an den unverhohlenen Rassismus, dem meine türkischen Freundinnen ausgesetzt waren. Die Themen sind leider immer noch aktuell. Aber mein Roman verfolgt auf keinen Fall eine politische Linie. Ein jüdischer Arzt, ein Pfarrer, eine kommunistische Schleiferfamilie, eine türkische Gastarbeiterin und deren Tochter: Diese Romanfiguren verbindet in „Wupperschatten“ Freundschaft. Ich glaube an die Freundschaft. Sie ist ein Schlüssel zur Bereitschaft, zuzuhören, sich auszutauschen, zu lernen, sich für andere Perspektiven zu öffnen. Das Abrücken vom „Ich-will-um-jeden-Preis-rechthaben“ ist etwas, das wir dringend brauchen. Wäre Willi Dickhut noch am Leben, würde er mir vielleicht widersprechen, vertrat er doch eine dezidierte politische Linie. Allerdings, so beschreiben ihn Zeitgenossen, würde er ebenso betonen, dass er meine Meinung respektiert. Und dass man zuhören und auf Augenhöhe miteinander sprechen muss. Ich habe höchsten Respekt für seine Werke, tragen sie doch zum Mosaik echter Meinungsvielfalt bei. Und wie ich hörte, gab es für ihn wohl keine schönere Landschaft als die Wupperberge. Da stimme ich ihm zu.

 

„Wupperschatten“ gibt’s überall im Handel als Taschenbuch (16,99 Euro, ISBN: 978-3-384-16776-7) sowie als eBook (2,99). Lilian Muscutt liest am Donnerstag, dem 16. Mai 2024 im „Wohnzimmer“ - Cow Club Vereinsheim, Düsseldorfer Straße 87, Solingen, 19:30 Uhr Einlass, 20:00 Uhr Beginn, Karten im VVK (5 Euro) z.B. auf www.solingen-live.de/511535. Mehr Infos: wupperbuecher.de

 

 

"Wupperschatten" von Lilian Muscutt und "So war's damals" von Willi Dickhut können auch bei People-to-People bezogen und in der Bücherei des Willi-Dickhut-Museums ausgeliehen werden.