Leserbrief aus Dresden
Zum "Osterspaziergang" von Goethe
Ein Leser aus Dresden freute sich, dass "Rote Fahne News" am Ostersonntag Goethes "Osterspaziergang" zur Sprache brachte. Hier sein Leserbrief:
In dem Text schreibt ihr: "Das Gedicht beschreibt – so scheint es zunächst – die Veränderungen im Frühling, in der Natur, bei den Menschen in den Städten, ihren 'Frühlingsgefühlen' usw."
Nun, es scheint nicht nur so, dass Goethe die Veränderungen im Frühling in der Natur usw. beschreibt, sondern das tut er wirklich. Das tut er AUCH. Genauso ist es richtig, wenn ihr analysiert: "Liest man genauer, fällt auf, dass Goethe den Frühlingsaufbruch als Bild, als Metapher nutzt, um dem Aufbruch der Menschen, ihrer Befreiung aus der bedrückenden Enge des feudalen Mittelalters, ihrer Hinwendung zum Neuen, ihrem Streben nach Freiheit und Freude ein Gedicht von bleibender Schönheit schenkt."
Und das ist das Interessante und Komplizierte an guten Gedichten: Dass man in relativ wenigen Zeilen mehrere Bedeutungsebenen einarbeiten kann. (Da ich selbst immer wieder Gedichte schreibe und genau das mit den mehreren Bedeutungsebenen praktiziere, kann ich da mitreden.)
Goethe beschreibt vordergründig den Frühling als Jahreszeit. Und holt damit den Durchschnittsleser ab. Der sich darin wiedererkennen kann. Um dann eben diesen Frühling als Metapher, bzw. Gleichnis, weiter zu verarbeiten, wie ihr es auch richtig charakterisiert.
Damit ist nicht nur der "Osterspaziergang", nicht nur "Faust" als Ganzes, in dem der "Osterspaziergang" enthalten ist, nicht nur eine ganze Reihe weiterer Gedichte, Balladen, Texte von Goethe als hochgradig Dialektisches, unbedingt zu bewahrendes Literaturerbe anzusehen.
Gerade im "Faust" finden sich auch, relativ zu Beginn, die Worte "Alles, was besteht, ist wert, dass es zugrunde geht". Auch damit spricht er von "der bedrückenden Enge des feudalen Mittelalters, ihrer Hinwendung zum Neuen, ihrem Streben nach Freiheit und Freude", um nochmals eure schönen Worte, bezogen auf den Osterspaziergang, zu zitieren. Somit fügt sich dieser auch ein in das ganze komplette Kunstwerk "Faust 1" und kann nicht einfach als einzeln dastehendes Gedicht gesehen werden.
Dass Goethe zum einen solche fortschrittlichen Gedanken in seinem Werk verankerte, und zugleich Angehöriger der herrschenden Klasse war, zeigt zugleich seine innere Widersprüchlichkeit. Dazu gab es mal vor sehr vielen Jahren, als die Rote Fahne noch als Wochenzeitung herauskam, einen sehr guten Artikel von euch. Leider habe ich ihn nicht mehr.
Übrigens: Ich habe mir auch Gedanken gemacht über den Satz: "In vielen Schulen wird es auch heute noch behandelt, dann aber meist auf die Beschreibung der Erscheinungen reduziert." Das dürfte auf die Schulen in der ehemaligen BRD und im "vereinigten" Deutschland" zutreffen. Im Schulunterricht der DDR, erste Hälfte der 1980er Jahre, war das anders. Das war die Zeit, als ich selbst die Schulbank drückte. Und da wurden im Unterricht die verschiedenen Bedeutungsebenen, und wie die Frühlingsbeschreibung als Metapher für das Weitergehende dient, sehr deutlich durchgenommen.