Leserbrief
Nachwahl in Berlin: Die gesellschaftliche Polarisierung nicht gering schätzen
Peter Weispfenning hat an die Genossinnen und Genossen der Landesleitung Berlin-Brandenburg geschrieben:
Liebe Genossinnen und Genossen, ich hatte mich gefreut, dass ihr so schnell eine erste Wahlanalyse zur Nachwahl zum Bundestag in Berlin auf Rote Fahne News geschrieben hattet (mehr dazu hier). Mittlerweile stellt sich aber heraus, dass sie ziemlich oberflächlich war.
Ihr habt lediglich den Vergleich des neuen Berliner Gesamtergebnisses durch die Veränderung der teilweisen Wahlwiederholung beurteilt. Danach hätte es nur kleine Veränderungen im Vergleich zur Wahl 2021 gegeben.
Die tatsächlichen Stimmergebnisse, dort, wo Nachwahlen stattfanden, unterscheiden sich davon aber nicht unerheblich: Die SPD hat drastisch verloren mit -7,8 Prozentpunkten (von 22,4 Prozent auf 14,6 Prozent), die FDP brach um -5,7 Prozentpunkte auf 3,3 Prozent ein, was regelrechte Panik in der FDP hervorruft. Relativ stabil entwickelten sich die Grünen mit +0,5 Prozentpunkten (jetzt 27,6 Prozent) und die Linkspartei mit einem leichten Plus +0,7 Prozentpunkte (auf 12,6 Prozent). Es ist erfreulich, dass die MLPD offenbar leicht zulegen konnte. Die CDU gewann 6,9 Prozentpunkte und liegt jetzt bei 20,6 Prozent. Die AfD stieg von 7 Prozent auf 12,6 Prozent (+5,6 Prozentpunkte). In einigen Wahlbezirken im Osten wurde sie mit Abstand stärkste Partei, teils mit über 50 Prozent der abgegebenen Stimmen. Allerdings muss man auch beachten, dass die AfD in den Umfragen zuvor teils durchaus um einiges höher lag und die antifaschistische Massenbewegung eine bestimmte Wirkung erzielt.
Natürlich muss beachtet werden, dass diesmal die Wahlbeteiligung mit 51 Prozent erheblich geringer lag. Alle bürgerlichen Parteien, mit Ausnahme der AfD, haben somit absolut an Stimmen verloren, was den Fortgang der Vertrauenskrise der Massen in die bürgerlichen Parteien zum Ausdruck bringt.
Alles in allem schätzt eure erste Einschätzung die gesellschaftliche Polarisierung, die sich auch im Wahlergebnis ausdrückt, tendenziell gering. Methodisch habt ihr euch einseitig an dem, was der Berliner Wahlleiter in den Mittelpunkt gerückt hat, orientiert. Er hat in der Ergebnispräsentation sehr stark auf das veränderte Gesamtergebnis abgehoben, weil das nach seinen bürgerlich-parlamentarischen Maßstäben entscheidend ist. Für uns ist das Interessanteste an den Wahlergebnissen, dass sie ein – allerdings äußerst begrenzter und verzerrter – relativer Gradmesser für die Entwicklung des Bewusstseins der Massen sind.
Herzlichen Gruß!