Aus aktuellem Anlass: Sexuelle Gewalt auch in evangelischen Einrichtungen

Aus aktuellem Anlass: Sexuelle Gewalt auch in evangelischen Einrichtungen

„Gottes unerforschlicher Ratschluss“?

Jürgen war ein lebendiger, sprachgewandter, fröhlicher und hübscher zwölfjähriger Junge mit einer hellen Knabenstimme. Er war der "Sonnenschein" des Heims. Wo es etwas vorzutragen oder zu singen gab – Jürgen stand in der ersten Reihe. Er lebte in den 1970er-Jahren in einem süddeutschen Heim der Diakonie für geistig und lernbehinderte Kinder und Jugendliche.

Korrespondenz
„Gottes unerforschlicher Ratschluss“?
(foto: Shutterstock)

Eines Morgens war sein Bett leer. Niemand konnte sich das erklären. Er war noch nie weggegangen. Er hatte nichts anderes. Eine Suchaktion auf dem großen Gelände der Einrichtung wurde gestartet. Vergeblich. Schließlich wurde er gefunden: überrollt auf dem Bahngleis viele Kilometer weit weg.
Entsetzen und Trauer. Ein Verbrechen? Dafür gab es keinerlei Anzeichen. Ein Freitod? Aber doch nicht bei diesem scheinbar so fröhlichen und harmonischen Jungen. Schließlich wurden Untersuchungen in dem Heim durchgeführt. Das schockierende Ergebnis: Jürgen wurde seit Jahren nachts von größeren Jungs vergewaltigt. Sexualität und sexuelle Gewalt waren tabu in dem bigotten pietistischen Milieu dieser Zeit. Der sonst so redegewandte Jürgen hatte keine Sprache für sein Elend – und niemanden zum Sprechen. Er sah nur diesen einen fürchterlichen „Ausweg“.


Offensichtlich wussten einige aber Bescheid. Auch gab es kaum Nachtwachen. Zig Kinder und Jugendliche mit Behinderungen wurden nachts oft sich selbst überlassen.


Als Mitarbeiter dieser Einrichtung stellte ich den leitenden Pfarrer – eine Berühmtheit in der Region - zur Rede. Ich forderte eine Untersuchung über Täter und Mitwisser – und über ihr Schweigen. Ich forderte mehr Nachtwachen… . Vergeblich.

 

Der Pfarrer erklärte mir verständnisvoll und mit warmem gütigem Blick - weil ich das ja als Nichtchrist nicht wissen konnte: „Da können wir Menschen nichts machen. Das ist Gottes unerforschlicher Ratsschluss!“ Als ich ihn entgeistert anstarrte, verlagerte er seine Argumentation von den „Höhen“ Gottes auf die „Tiefen“ der Sexualität. Entsprechend wanderte sein Blick langsam von meinen Augen körperabwärts, während er fast schon väterlich-vertraut sagte: „Wissen Sie, Herr…, bei uns Männern hört der Verstand doch unter der Gürtellinie auf!“


Welch empörend abgebrühte menschenfeindliche Denkweise von solchen leitenden evangelischen Kirchenleuten – und auch noch selbstgerecht verpackt in religiöse Rechtfertigungen! Sicher kein Einzelfall. Kein Wunder also, dass erst jetzt Tausende Fälle von sexueller Gewalt auch in evangelischen Einrichtungen aufgedeckt worden sind.


Noch heute - fast 50 Jahre später - schäme ich mich: Ich hätte mutig um eine restlose Aufklärung kämpfen müssen - für Jürgen und alle anderen.