Pfeifkonzert von Bauern in Berlin
Oh je, Lindner!
„Und wenn dein Tag noch so scheiße war, der Tag von Christian Lindner war jedenfalls schlimmer!“ - so der kurze Kommentar eines Influencers am Abend des 15. Januar.
Mit dem ganz besonderen Selbstbewusstsein, das unserem Bundesfinanzminister eigen ist, trat Christian Lindner am Morgen des 15. Januar vor 10.000 Landwirte, die ans Brandenburger Tor gekommen waren. Immerhin: Im Gegensatz zu Kanzler Scholz kam er. Seine Selbst-Überzeugtheit rührte wohl daher, dass die FDP schließlich die Partei des Mittelstands und des freien Unternehmertums sei - also bestünde quasi eine Art Seelenverwandtschaft zwischen ihm und den Landwirten. So offenbar die Denkweise des von der Wirklichkeit etwas entrückten Ministers.
Nur sahen das die Landwirte so ganz anders. Schon als er das Rednerpult betrat, schallte ihm ein gellendes Pfeifkonzert entgegen. Es sollte 18 Minuten andauern, die gesamte Rede über. Der erzkonservative Chef des Deutschen Bauernverbands, Joachim Rukwied, versuchte, beschwichtigend auf die protestierenden Bauern einzuwirken – doch seine Autorität versagte.
Das Fremdschämen war selbst den Offiziellen auf der Bühne ins Gesicht geschrieben, als Lindner verkündete: „Ich komme aus dem Bergischen Land! Ich bin zwischen Wald, Wiesen und Feldern aufgewachsen. Ich bin Jäger! Ich bin schon fertig, wenn ich einmal den Pferdestall ausgemistet habe – also weiß ich, was das für eine Arbeit ist, die Sie leisten.“ Man solle also nicht denken, die Regierung bestünde nur aus Städtern. Nun ja! Nun kann keiner die Schönheit des Bergischen Landes leugnen. Doch besagt dies noch nichts darüber, ob man auf Seite der werktätigen Massen steht.
Dabei hatte Christian Lindner sich eine so sehr schöne Argumentation zurechtgelegt. Er versuchte, nach links und nach unten zu treten und auf diese Art den Schulterschluss mit den Landwirten herzustellen: Politik und Medien sollten lieber „vor der linksextremistischen Unterwanderung der Klimakleber warnen“, anstatt vor den Bauern. Zudem „ärgere es ihn“, vor dem „fleißigen Mittelstand über Kürzungen sprechen“ zu müssen, „während auf der anderen Seite in unserem Land Menschen Geld bekommen fürs Nichtstun. Soziale Reformen sind schwer anzugreifen, aber auch da gehen und müssen wir ran. Deshalb kürzen wir die Leistungen für Asylbewerber. Deshalb sparen wir eine Milliarde Euro beim Bürgergeld. Denn wir dürfen es nicht länger tolerieren, wenn Menschen sich weigern, für ihr Geld zu arbeiten. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, das ist eine Frage der Gerechtigkeit.“
Was soll eigentlich schon wieder das rassistisch anmutende Narrativ, dass Asylbewerber und Bürgergeldempfänger sich weigern, für ihr Geld zu arbeiten und Nichtstuer sind?! Ist das die Art von Überzeugungsarbeit, die Lindner einem Verbot der AfD vorzieht? Doch „Gerechtigkeit“ - ein gutes Stichwort! Lindner hätte auf den neuen Oxfam-Bericht zu sprechen kommen können. Dieser deckte auf, dass das Gesamtvermögen der fünf reichsten Deutschen seit 2020 inflationsbereinigt um fast 75 % gewachsen ist, von 89 auf 155 Milliarden $. Da wäre doch Potenzial, sich bei nichtstuenden Gutverdienern wenigstens etwas abzuzwacken und die hart arbeitenden Landwirte ebenso in Ruhe zu lassen wie die besonders unterdrückten und geschmähten Asylbewerber und Bürgergeldempfänger. Aber auf die kam Lindner nicht zu sprechen.
Doch auch hier nicht der erhoffte Applaus: Offenbar war die Masse der Landwirte für dieses durchsichtige Spaltungsmanöver an diesem Tag nicht zu haben. Das Pfeifen flammte besonders auf, als Lindner seine Angriffe auf die Klein- und Mittelbauern mit dem Kampf um Frieden und Freiheit im Ukrainekrieg begründete. Doch immerhin, so Lindner: „Auch wir als Regierung haben unseren Beitrag geleistet! Ich habe den Neubau des Finanzministeriums gestoppt.“ Und es wirkt wie Realsatire, als er unter Pfiffen und Dröhnen schüchtern sein Manuskript vorliest: „Wir rücken so enger zusammen ...“ Die letzten Silben hört man kaum mehr.
Immerhin gesteht er den Protestierenden zu, Erfolg gehabt zu haben: Das grüne Kennzeichen bliebe und die Änderungen beim Agrardiesel würden nicht sofort, nur schrittweise erfolgen – das Pfeifen wird wieder laut. Vage verspricht er, durch die gewonnene Zeit könnte man ab dann Zug um Zug Belastungen für Betriebe abbauen. Um dann ein Paket umweltschädlicher Maßnahmen anzukündigen: Man müsse sich öffnen für neue Züchtungsmethoden, bräuchte einen planbaren Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, neue Standards in der Tierhaltung seien unverhältnismäßig und wenn Flächen zeitweise nicht genutzt würden, würde es Ertragskraft kosten. Doch eine nachhaltige Landwirtschaft muss Agrarflächen Zeit zur Regeneration geben! Aber das zählt für Lindner nicht: Alles dreht sich für ihn darum, „die wirtschaftliche Substanz der Betriebe zu stärken“, „neue Initiative für nachhaltiges Unternehmertum“ zu wecken, „Produktivität zu stärken“. Dass das nur den Großbauern und Großagrariern zuguten kommt, davon spricht er nicht.
Auch der letzte Anbiederungsversuch schlägt fehl: „Sie sind doch auch alle Macherinnen und Macher!“ – das Pfeifen wird unerträglich laut. Oh je! Das war Nix, Herr Finanzminister.
Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution
620 Seiten
ab 11,99 €
Im Buch „Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution“ hieß es 2011: „In der Etappe der nichtrevolutionären Situation, wenn Ebbe des Klassenkampfs herrscht, ist der Widerspruch der kleinbürgerlichen Zwischenschichten … zur Monopolbourgeoisie und den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen nichtantagonistisch.“ Davon ging Lindner offenbar noch aus.
Doch sei ihm die Lektüre zum Weiterlesen empfohlen: „Die kleinbürgerlichen Zwischenschichten geraten mehr und mehr in Widerspruch zu den herrschenden Monopolen und ihrer allseitigen Diktatur über die gesamte Gesellschaft. … Letztlich wird es aber die Umverteilung des Nationaleinkommens zugunsten des allein herrschenden Finanzkapitals und zulasten der gesamten Gesellschaft, also auch der kleinbürgerlichen Zwischenschichten, auf die Spitze treiben. Mehr und mehr wird ihnen die Perspektivlosigkeit ihrer Lage vor Augen geführt … Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf ihren Rücken und der Übergang zur Arbeiteroffensive wird die kleinbürgerlichen Zwischenschichten anziehen. Ein wachsender Teil wird von der allgemeinen Unzufriedenheit erfasst, beteiligt sich an Protesten gegen die Regierung und orientiert sich an Inhalten und Kampfformen der Arbeiterbewegung.
Dann ändert sich der Charakter der gesellschaftlichen Widersprüche: Der Widerspruch der kleinbürgerlichen Zwischenschichten zur Diktatur der Monopole wird immer mehr antagonistisch, während der zur Arbeiterklasse immer mehr nichtantagonistisch wird." (S. 461/462)
Wer sich das Ganze selbst ansehen will, dem sei dieses Mal ausnahmsweise die Bild empfohlen, die die ganze Rede dokumentiert: https://www.bild.de/video/clip/politik-inland/auge-in-auge-mit-den-wut-bauern-die-lindner-rede-im-livestream-86764290.bild.html