Gastbeitrag von Dr. Rainer Werning

Gastbeitrag von Dr. Rainer Werning

Zum Tode von Henry Kissinger: Ein Jahrhundertirrlicht erlosch

Der Mann war ein Magier der Macht, der er eine zutiefst aphrodisische Wirkung zuschrieb. Machtvoll – mehr noch: herrsch(afts)süchtig – war der verschlagene Henry überdies. Als berufener, wiewohl nie gewählter Hohepriester des internationalen kapitalistischen Systems gefiel er sich in der Rolle des Denkers und Lenkers einer knallharten imperial(istisch)en „Realpolitik“ im Bannkreis von „freedom & democracy“.

Von Dr. Rainer Werning
Zum Tode von Henry Kissinger: Ein Jahrhundertirrlicht erlosch
Antikommunist durch und durch: Henry A. Kissinger am 29. November 2023 im Alter von 100 verstorben (shutterstock_2284994401)

Chiles ehemaliger Botschafter bei den Vereinten Nationen sowie in Washington, Juan Gabriel Valdés, charakterisierte Kissinger als einen Mann, „dessen historische Brillanz nie seine tiefe moralische Erbärmlichkeit verbergen konnte". Der Ex-Botschafter weiß sehr wohl, wovon er redet. Kissinger half schließlich tatkräftig mit, vor genau 50 Jahren in seiner Heimat das blutrünstige Pinochet-Regime zu installieren und dem Land ein neoliberales Wirtschaftsmodell zu verpassen, worunter es bis heute leidet.

 

So verheerend die Kissingersche „Realpolitik“ allein in Chile und andernorts in Südamerika war, so ungleich größer waren die Blutbäder, die Umweltzerstörungen und das immense menschliche Leid, für das die Kissingersche Inszenierung des Grauens in Südostasien stand. Namentlich und vor allem in Kambodscha, Laos und Vietnam, wo der Vietnamkrieg zutreffend als „der amerikanische Krieg“ genannt wurde.

 

Und dann war da noch mit Indonesien das größte und bevölkerungsreichste Land in Südostasien, in dem überdies die damals weltweit drittstärkste kommunistische Partei, die PKI, beträchtlichen politischen Einfluss genoss. Zum Entsetzen des „Westens“ – sprich: der USA, Britanniens, der Bundesrepublik Deutschlands sowie Australiens –, der fürchtete, Indonesien könnte sich der VR China annähern beziehungsweise gar in ihren Einflussbereich geraten.

 

Kein Wunder, dass sich der prowestliche General der Eliteeinheit Kostrad, Mohammed Suharto, um die Jahreswende 1965/66 mit des „Westens“ Segen blutig an die Macht putschen, Hunderttausende Regimegegner und vermeintliche Kommunisten massakrieren lassen und so den Grundstein einer sog. „Neuen Ordnung" legen konnte. Diese ward vor allem in Washington deshalb so geschätzt, weil Indonesien als Bastion westlicher Interessen in der Region dienen sollte, sich dort überaus lukrative Geschäfte machen ließen und das System Suharto als erfolgreiches Modell einer präventiven Konterrevolution galt. Mehr noch: Die USA gewannen ihren „Vietnamkrieg“ nicht auf den Schlachtfeldern Indochinas, sondern mit Hilfe ihrer regionalen militärischen Kettenhunde im Inselreich Indonesien.

 

Um ihre Alliierten in Südostasien trotz des in Vietnam erlittenen Debakels bei der Stange zu halten, reisten Mitte der 1970er Jahre der damalige US-Präsident Gerald Ford und sein Außenminister Henry Kissinger durch die Region. Zwischenstation war natürlich auch die indonesische Metropole Jakarta, um Suharto zu treffen, den man jahrelang massiv mit Waffen versehen hatte. Am 6. Dezember 1975 konferierten die drei Staatsmänner miteinander. Brisantester Punkt auf der Agenda: die Invasion Osttimors. Für Ford und Kissinger war das kein Novum; sie wussten bereits von Geheimoperationen indonesischer Spezialeinheiten auf osttimoresischem Territorium, die es vor der Invasion gegeben hatte. Das Ford-Kissinger-Tandem enthielt sich jedweder Kritik. Mehr noch: Kissinger „empfahl" Suharto lediglich, auf zwei Dinge tunlichst zu achten. Jakarta solle die Invasion erst beginnen, wenn er (Kissinger) und der Präsident wieder in Washington gelandet seien – just so geschah es denn auch. Und: Suharto wurde zum „quick fix" gedrängt. Im Klartext: das Militär solle den Einmarsch möglichst schnell abwickeln. Das allerdings war schwieriger als ursprünglich geplant.

 

Unmittelbar nach dem Suharto-Besuch im Dezember 1975 würgte Kissinger kritische Nachfragen in seinem eigenen Stab mit der ihm eigenen sicherheitsfanatischen Unverblümtheit und der Formel ab: es widerspräche dem nationalen Interesse, wegen Osttimor den „Indonesiern die Zähne auszuschlagen". Bereits im Oktober 1975, etwa sechs Wochen vor der Invasion, hatten Spezialverbände Suhartos mit Wissen Kissingers Sabotageakte gegen Osttimor verübt. Daraufhin vergatterte Kissinger seine engsten Mitarbeiter mit den Worten: „Ich gehe davon aus, dass Sie in dieser Angelegenheit wirklich den Mund halten". In einem exklusiv für Henry Kissinger bestimmten Memorandum hatte David Newsom, zu jener Zeit US-Botschafter in Jakarta, bereits im März 1975 (knapp neun Monate vor der Intervention) skizziert, worum es eigentlich ging: „Die USA haben beträchtliche Interessen in Indonesien und keine in Timor".

 

Das Ableben des einst mächtigen Henry und des von den Bourgeoisien weltweit innig geschätzten „elder statesman“ Kissinger kommentierten ausgerechnet zwei – man verzeihe die westfälisch-derbe Formulierung – steißtrommelnde Verfechterinnen „feministischer wertegeleiteter Außenpolitik“ wie folgt: „Mit Henry Kissinger ist eine Jahrhundertgestalt der internationalen Politik von uns gegangen. Für viele war er Vorbild. Andere haben sich auch an ihm gerieben. Was über allem bleiben wird, ist seine Größe, unserem Land nach dem Zweiten Weltkrieg die Hand auszustrecken und bis zuletzt in Freundschaft verbunden zu sein.“ (Frau A. Baerbock) Und: „Henry Kissingers Strategie und seine herausragenden diplomatischen Fähigkeiten haben die Weltpolitik im 20. Jahrhundert geprägt. Sein Einfluss und sein Vermächtnis werden noch lange nachhallen.“ (Frau U. von der Leyen)

 

Auf derlei Realitätsverlust hatte bereits der spätrömische Gelehrte Boëthius eine passende Antwort parat: „Si tacuisses“. – „Hättest du doch nur geschwiegen“.