Gelsenkirchen
„Die Grenzgänger“ im Willi-Dickhut-Haus: „Darum lasst uns alles wagen“
Stehender Applaus, Rufe nach Zugaben, begeisterte Gesichter im Publikum - so endete das Konzert der Bremer Musikgruppe „Die Grenzgänger“ im Kultursaal des Willi-Dickhut-Hauses am 16. November 2023.
„Lieder des jungen Karl Marx – vom Vormärz bis zur Pariser Kommune“ – unter diesem Titel boten die vier Musiker Michael Zachcial (Gesang und Gitarre), Felix Kroll (Akkordeon), Anette Rettich (Cello) und Frederic Drobnjak (Konzertgitarre) eine Mischung von exzellenter Musik mit demokratisch-revolutionärer Aussage. Dazwischen gab es treffende Kommentare von Michael Zachcial.
Zu Beginn erinnerten sie mit dem Lied „Über unsern Kohlenpott“ an den verstorbenen Ruhrgebietspoeten Frank Baier, mit dem sie vor dreizehn Jahren einen gemeinsamen Auftritt im gleichen Saal hatten. Mit dem Refrain: „Jau wat is dat schön im Kohlenpott …“ wurde der Saal von Anfang an zum Mit-Akteur.
Der 200. Geburtstag von Karl Marx im Jahr 2018 war für „Die Grenzgänger“ der Anlass, bisher weitgehend unbekannte Gedichte des 17- bis 19-jährigen Karl Marx zu vertonen. Marx selbst hielt sie als erste literarische Versuche nicht für veröffentlichungswürdig. Seinen Töchtern ist zu verdanken, dass sie aufbewahrt wurden.
Die Auswahl beeindruckt durch einen großen Reichtum an Gefühlen und Gedanken:
- Berührende Liebeslyrik an seine heißgeliebte Jenny
- Hohe Sensibilität und Empathie in der Ballade „Die Zerrißne“ über eine schöne alte Frau, die einen Schlaganfall erleidet und nach jahrelangem Leiden zwischen Apathie und wachen Momenten schließlich stirbt
- Spott über die deutsche Spießigkeit.
- Anteilnahme für die einfachen arbeitenden Menschen wie im schaurig-grummelnd (Akkordeon vom Feinsten!) vorgetragenen „Gnomenlied“: „Wir pochen, wir hämmern, im Morgen und Dämmern, mit Kunst und Macht“.
- Große Leidenschaft – noch idealistisch geprägt – für den Kampf um eine bessere Welt, wie in dem Gedicht „Empfindungen“: „Darum lasst uns alles wagen, nimmer rasten, nimmer ruhn; nur nicht dumpf so gar nichts sagen, und so garnichts woll‘n und thun. Nur nicht brütend hingegangen, ängstlich in dem niedern Joch, denn das Sehnen und Verlangen, und die That, sie bleibt uns doch.“ Als Refrain wurde das vom ganzen Saal mitgesungen.
Nach der Pause interpretierten „Die Grenzgänger“ mit kreativen musikalischen Ideen bekannte Volks- und Arbeiterlieder im Geiste von Karl Marx: Wie Heinrich Heines „Lied von der Loreley“ („Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“) mit wunderbar singendem Cello und lautmalerischen Wellenbewegungen durch das Akkordeon. Von Brecht und Eisler das Einheitsfrontlied: „Und weil der Mensch ein Mensch ist“ und die „Resolution“ über die Pariser Kommune.
Komposition und Arrangement der Lieder sowie die Interpretation waren vielfältig und oft überraschend - angepasst an Inhalt und Charakter der Texte: mit leidenschaftlichem Gesang, mit warmem, manchmal auch herbem Cello, oft abenteuerlich rasant gezupften Gitarrensoli, mit virtuosem Akkordeonspiel - je nach Lied mal jazzig, mal als einfaches Volkslied, mal als Swing oder auch als Tang.
Michael Zachcial bedankte sich beim begeistert mitgehenden Publikum und begrüßte, über Karl Marx in diesem Gebäude singen zu können: „Es ist schön, dass ihr so viele schöne Zitate gegen den Antikommunismus an eurem Haus habt. Auch andere Häuser müssten so geschmückt sein.“ Passend dazu wurde eine Spendensammlungen durchgeführt, um die Farbschmiererei auf dem Karl-Marx-Denkmal vor dem Willi-Dickhut-Haus zu beseitigen.