Interview mit einem Palästinenser

Interview mit einem Palästinenser

„Die Moral in Gaza ist nicht gebrochen“

Die Rote Fahne Redaktion sprach mit Omar¹, der Kontakte nach Nahost und in den Gazastreifen hat, über die aktuelle Situation:

Von cw
„Die Moral in Gaza ist nicht gebrochen“
Die Menschen in Gaza beerdigen ihre Toten (screenshot)

Rote Fahne: Du arbeitest als Palästinenser in Deutschland, hast über Familie und Freunde viele Kontakte und konkrete Kenntnisse der Ereignisse im Nahen Osten. Nach dem menschenverachtenden Terroranschlag der Hamas ist die zionistische und imperialistische Regierung Israels dazu übergegangen das palästinensische Volk in Gaza kollektiv mit Bombenterror zu bestrafen. Was bedeutet das für das Leben der palästinensischen Familien jetzt in Gaza?
Omar: Die Situation in Gaza ist Chaos und grenzenloses Leiden. Hunderte von Kinder befinden sich momentan noch unter den Trümmern. Wenn eine völlig überlastete Feuerwehr endlich ankommt, fragen lebendig begrabene Kinder: „Warum hat es so lange gedauert?“ Ganze Stadtteile sind nicht mehr bewohnbar; sie liegen einfach in Asche. Eltern versuchen, ihre Kinder so zu beruhigen: „Wenn du die Bombardierung hören kannst, bleibst du noch am Leben, die Rakete, die dich töten kann, hörst du gar nicht“. Sie schreiben die Namen ihrer Kindern auf ihre Beine und Arme, damit sie identifiziert werden können, falls sie getötet werden! Es sind bisher über 3000 Kinder und 1700 Frauen getötet worden. In den Krankenhäusern in Gaza werden Operationen ohne Narkose durchgeführt, weil es einfach keine Mittel mehr gibt. Krankenhäuser sind jetzt nicht nur für Kranke da, sondern dienen auch Tausenden Familien ohne Obdach als Gelände, wo sie vielleicht etwas besser vor Bomben geschützt sind.

 

Gestern hat mir ein Arzt aus Gaza mitgeteilt, dass in Gaza-Nord gezielt Bäckereien und Supermärkte bombardiert werden. Sind das die „militärspezifischen Ziele“ der israelischen Armee? Es ist auch kein Krieg zwischen Juden und Muslimen. Palästinenser sind auch teilweise Christen und werden genauso unterdrückt und bombardiert. Auffallend ist, dass die Moral der Menschen in Gaza nicht gebrochen ist: Sie helfen sich gegenseitig, mit allem was sie haben. Sie nehmen Familien aus zerstörten Häusern bei sich auf. Dann schlafen alle in Schichten, damit alle ein Bett bekommen können. Man sieht Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit, trotz eigener Probleme.

 

Wie reagiert die Bevölkerung in Gaza auf die Aufforderung der israelischen Regierung in den Süden Gazas zu ziehen?
Längst nicht alle fliehen. Einmal, weil es auch im Süden nicht sicher ist. Ein Freund aus Rafah, nahe der Grenze zu Ägypten, erzählte mir, dass Familienmitglieder von ihm auf der Flucht von Bomben getroffen wurden. Und das ist kein Einzelfall. Und wir reden hier nicht von Hamas-Mitgliedern, sondern von ganz normalen Menschen. Es gibt etliche Aufrufe aus Israel, uns zu massakrieren – alle haben vom israelischen Verteidigungsminister gehört, dass wir nur „menschliche Tiere“ sind. Zweitens gehen viele nicht aus Gaza-Nord weg, weil sie eine Invasion Israels befürchten und dann nie wieder zurückkehren können. Israel versucht die Menschen von Gaza nach Ägypten zu drücken. Das kennen wir schon: Seit 75 Jahren annektiert Israel immer mehr Land des historischen Palästina. Viele sagen: Wenn wir mit dem Leben zahlen müssen, dann machen wir das. Wir machen es für unseres Land. Wir machen es, damit Palästina endlich frei sein kann.


Die gemeinnützige Solidaritäts- und Hilfsorganisation „Solidarität International“ (SI) sammelt Spenden für die vom Krieg betroffene palästinensische Bevölkerung. Dabei geht es auch um Unterstützung der noch verbliebenen Krankenhäuser in Gaza.
Ich halte das für sehr wichtig. Jede Hilfe ist willkommen. Die Krankenhäuser haben alle ihre Ressourcen verbraucht. Der Winter kommt, und viele Familien sind schon obdachlos. Jede Spende verbessert unsere Lage.