Zeitzeugenberichte und Lehren für heute
50 Jahre Fordstreik: "Da wurde eine ungeheure Kraft frei"
Rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren gestern zur Veranstaltung "50 Jahre Fordstreik" mit anschließenden Konzert der Band "Gehörwäsche" in die Kölner Stegerwaldsiedlung gekommen. Sie spannte einen lebendigen Bogen von Berichten ehemaliger Streikaktivisten zu den Lehren für die aktuelle Kulmination bei Ford und in der gesamten Automobilindustrie.
Organisiert war die Veranstaltung von der Kölner Gruppe "Arbeitersolidarität" innerhalb der Internationalen Automobilarbeiter-Koordination, von der Automobilarbeiter-Plattform im Internationalistischen Bündnis und kämpferischen Gewerkschaftern der IG Metall. Auf dem Podium vertreten waren Seyfo Kurt, ehemaliges Mitglied der Streikleitung, Streikaktivist Peter Bach, Lisa Höchtl von der MLPD Köln/Leverkusen, eine aktive Ford-Arbeiterin und IG-Metallerin sowie Süleyman Gürcan von der Migrantenorganisation ATIF.
In der mit historischen TV-Sequenzen hinterlegten Einleitung wurde der sechstägige selbständige Fordstreik von 1973 in die damalige wirtschaftliche und politische Entwicklung eingeordnet. In Deutschland war die langanhaltende Hochkonjunktur zu Ende gegangen und die Monopole gingen zu verstärkten Angriffen gegen die Arbeiterbewegung über. Die Inflation erreichte 1973 mit über 7 Prozent einen Nachkriegshöhepunkt. Als Antwort darauf entwickelte sich eine Welle von selbständigen Streiks mit insgesamt über 230.000 Beteiligten.
Was das Fass zum Überlaufen brachte
Auch bei Ford wurde in einer tumultartigen Betriebsversammlung von Vertrauensleuten und Betriebsräten eine Nachschlagsforderung von 60 Pfennig pro Stunde aufgestellt. Das Fass zum Überlaufen brachte die provokative Entlassung von 300 türkischstämmigen Arbeitern, weil sie zu spät aus dem Urlaub zurückkamen. Dabei wusste die Geschäftsleitung genau, dass die für Ford eigens angeworbenen türkischen Migranten angesichts der tagelangen Hin- und Rückfahrt zu ihren Familien mehr als die drei zugestandenen Urlaubswochen benötigten.
Der Streik ging von der Y-Halle aus, die auch heute noch das Herz der Autofertigung ist. Peter Bach berichtete, wie er tief beeindruckt von der kämpferischen Masse war, die am Freitag, 21. August 1973, von Halle zu Halle eilte, wo sich immer mehr Kolleginnen und Kollegen dem Streik anschlossen. Die gesamte Spätschicht, etwa 8.000 deutsche und türkische Arbeiter, beteiligte sich daran. Sie wählten eine selbständige Streikleitung und stellten über die Forderung nach Wiedereinstellung der entlassenen Arbeiter hinaus noch weitere Forderungen auf, insbesondere nach 1 DM mehr Stundenlohn und Herabsetzung der unmenschlichen Bandgeschwindigkeit. Das Werk wurde besetzt, Streikposten wurden an den Toren platziert. Klare Streikregeln besagten unter anderem, dass kein Alkohol getrunken wird und keine Gewalt angewendet werden darf, außer gegen Provokateure.
Jede Nacht feierten mehr Streikende
Die Geschäftsleitung spekulierte darauf, dass sich der Streik über das Wochenende totläuft. Nicht einberechnet hatte sie jedoch, dass es eben die Spätschicht vom Freitag war, die am Montag Früh antrat und den Streik entschlossen fortsetzte. Peter Bach: "Da ist eine ungeheure Kraft freigeworden. Wir waren überrascht und stolz, das Werk so lange anzuhalten und zu besetzen. In der ersten Streiknacht von Montag auf Dienstag waren es 400, die gemeinsam feierten, in der zweiten schon 800 und in der dritten rund 2.000. Diese Tage zu erleben, das hat mir ein Leben lang Rückenwind verpasst. Wir haben gezeigt, dass wir stärker sein können."
Der heute 81-jährige Seyfo Kurt berichtete: „Die Geschäftsleitung hat jedem der acht Mitglieder der Streikleitung das Angebot unterbreitet: Wenn ihr den Streik abbrecht, erhält jeder 50.000 DM, einen Ford Capri und die Wahl eines freien Arbeitsplatzes. Außerdem geben wir der Belegschaft 2 Pfennig mehr pro Stunde. Wir lehnten geschlossen und wütend ab.“ Er sagte aber auch: "Ich bin stolz, dass wir diesen Streik gemacht haben und bereue nichts."
Geschäftsleitung folgte "Drehbuch" gegen "wilde Streiks"
Was nun passierte, war ein Lehrstück über die Rolle des bürgerlichen Staats im Kapitalismus. Mit Unterstützung der Medien wie insbesondere der Bild-Zeitung hetzte die Geschäftsleitung vor allem gegen die migrantischen Arbeiter und die beteiligten Revolutionäre. Süleyman Gürcan schilderte, wie der Streik als "Türkenstreik" diffamiert wurde, der von "radikalen Kräften" missbraucht würde. Arbeiter, die sich nicht am Streik beteiligten, durften bezahlt zu Hause bleiben. Dadurch gelang es, einen Keil zwischen den relativ gefestigten Kern der Streikaktivisten und einen größeren Teil der deutschen Kolleginnen und Kollegen zu treiben. All das folgte dem Drehbuch der 1970 vom Unternehmerverband Gesamtmetall als Reaktion auf die erste Welle selbständiger Streiks von 1969 beschlossenen "Richtlinien über wilde Streiks".
Nachdem alle Bestechungs- und Bedrohungsmanöver den kämpferischen Kern nicht einschüchtern konnten, griff die Geschäftsleitung zum Mittel der Gewalt: Eine "Gegendemonstration", zusammengesetzt aus 400 Meistern und Vorarbeitern, Werkschutzangehörigen, aus Belgien herbeigeschafften Streikbrechern, Zivilpolizisten und leitenden Angestellten von Ford, lieferte sich am Donnerstag, 27. Juli 1973, Prügeleien mit den Streikenden und jagte gemeinsam mit der inzwischen auf dem Werksgelände stationierten Bereitschaftspolizei die Streikführer.
27 als "Rädelsführer" Beschuldigte wurden verhaftet, weit über 100 Arbeitern wurde fristlos gekündigt, etwa 600 weitere kündigten aufgrund von Einschüchterungen und Drohungen. Die Betriebsratsspitze und die rechte IG-Metall-Führung verhielten sich äußerst unrühmlich und trugen die Zerschlagung des Streiks aktiv mit. Die Kölner Ortsverwaltung der IG Metall, die für den Streik Verständnis äußerte, wurde kurz danach abgesetzt.
Auswertung der Streikerfahrungen als Anleitung für die Zukunft
Lisa Höchtl von der MLPD ging auf wichtige Lehren aus dem Streik ein. Sie betonte die Bedeutung eines vollständigen und allseitigen gesetzlichen Streikrechts in Deutschland. Angesichts der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus sei es umso mehr notwendig, die Gewerkschaften zu Kampforganisationen zu machen, wenn notwendig den gewerkschaftlichen Rahmen mit selbständigen Streiks zu durchbrechen und dies vor allem mit der Perspektive des echten Sozialismus zu verbinden.
Die MLPD als revolutionäre Arbeiterpartei hat in allen wichtigen selbständigen Streiks der letzten Jahrzehnte eine bedeutende Rolle gespielt und diese Kampferfahrungen als Anleitung für die Zukunft gründlich ausgewertet. Lisa Höchtl warb insbesondere für die Bücher "Gewerkschaften und Klassenkampf" sowie "Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution", in denen diese Lehren verarbeitet sind.
Von wegen "in Köln kann man nicht streiken"!
Die auf dem Podium vertretene Ford-Kollegin ging auf die Bedeutung selbständiger Streiks angesichts der aktuellen Angriffe des Fordkonzerns ein. Im Werk Saarlouis wurde erst kürzlich die Sackgasse der "Suche nach einem Investor" auch offiziell für gescheitert erklärt. Die Belegschaft dort steht nun genauso vor der Herausforderung, den Kampf um jeden Arbeitsplatz und gegen die geplante Werksschließung aufzunehmen wie die in Köln. Hier ist aufgrund der Verschiebung des groß angekündigten Produktionsstarts des ersten E-Modells Explorer ebenfalls mit weitreichenden Arbeitsplatzvernichtungsplänen oder gar einem Produktionsende zu rechnen.
Sie widersprach vehement Behauptungen, man könne nun in Köln überhaupt nicht mehr streiken. Die Belegschaft kann auch jetzt mit einem Streik den Konzern wirksam unter Druck setzen. Erstens werden erste Explorer-Modelle und weitere Autoteile gebaut, zweitens hält sich die Belegschaft weiterhin im Werk auf und drittens hat ein solcher Streik enorme politische Auswirkungen.
Große Kraft durch Zusammenschluss aller Automobilbelegschaften
In einer lebendigen Diskussion meldeten sich auch anwesende Kolleginnen und Kollegen von Daimler in Düsseldorf, VW in Braunschweig sowie Thyssenkrupp in Duisburg zu Wort. Sie berichteten von Diskussionen über die notwendige Organisierung gewerkschaftlicher und selbständiger Streiks in ihren Belegschaften, unter anderem davon, sich auch bewusst auf Einsätze des Staatsapparats einzustellen. In Redebeiträgen wurde betont, wie wichtig es ist, von Kämpfen der Arbeiter in anderen Ländern zu lernen und jetzt die Solidarität mit dem Streik der Automobilarbeiter in den USA zu verwirklichen.
Wichtig sei aber auch, die bewusste Einbeziehung der Arbeiterfamilien nicht zu unterschätzen, was 1973 - auch aufgrund objektiver Schwierigkeiten wie der großen räumlichen Entfernung - eine Schwäche war. Ein Vertreter der Internationalen Automobilarbeiter-Koordinierung betonte die wachsende Bedeutung des internationalen Zusammenschlusses aller Auto-Belegschaften, um eine den Konzernleitungen überlegene Kraft zu werden.
Ein Teilnehmer sagte: "Die heutige Zeit ist reif dafür, dass es Menschen gibt, die vorwärtsgehen - so wie ihr es damals getan habt. In eurem Streik wurde deutlich, dass die Arbeiter die eigentlichen Herren der Produktion sind. Sie können in Zukunft die Herren beim Aufbau der ganzen Gesellschaft sein, wenn wir den Sozialismus erkämpfen."
Auszubildende stellen Fragen
Gefragt wurde nach der Einbeziehung der Auszubildenden, was damals noch nicht gelang, auch weil die Geschäftsleitung alles tat, um das zu unterbinden. Eine junge Auszubildende wollte wissen, wie man solche Kämpfe organisiert. Tief beeindruckt erklärte sie nach dem Ende der Veranstaltung: „Mein Lebenstraum ist, wenn ich mit der Ausbildung fertig bin, bei Ford in so einer Belegschaft zu arbeiten!“
Ein Ford-Kollege wies darauf hin, dass auch Ford aus den Erfahrungen von damals gelernt habe. Der Konzern könne heute nicht mehr so nach "Gutsherrenart" verfahren. Die Klassenzusammenarbeitspolitik zur Verhinderung von Kämpfen ist viel mehr ausgebaut. Vieles, was damals relativ spontan entschieden wurde, müsse deshalb heute sehr bewusst vorbereitet und organisiert werden.
Konzert mit optimistischem Blick
Einstimmig verabschiedeten die Teilnehmer in diesem Sinne Solidaritätsresolutionen an die Belegschaft von Ford Saarlouis sowie an die streikenden UAW-Gewerkschafter in den USA. Zahlreiche Hände hatten dabei geholfen, das ganze Ambiente der Veranstaltung mit leckerem Essen, mehreren Infoständen und einer eindrucksvollen Ausstellung historischer Fotos vom Fordstreik vorzubereiten.
Anschließend gab die Band "Gehörwäsche" ein Konzert mit ihren Songs, in denen sie die Erfahrungen in der Produktion bei Ford und viele andere gesellschaftliche Fragen thematisieren. Das Konzert strahlte eine positive Grundstimmung und einen optimistischen Blick in die Zukunft aus und riss zum Tanzen mit.