Essen
Kamil Kartal, ein mutiger und bescheidener Arbeiterführer, berichtet über die Kämpfe der Bergleute in der Türkei
Am 7. September fand in Essen eine kleine Veranstaltung mit dem Gewerkschafter und Arbeiterführer Kamil Kartal statt. Er war eigens aus der Türkei zur 3. Internationalen Bergarbeiterkonferenz angereist und war dort Delegierter seines Landes.
Kamil berichtete sehr eindrucksvoll über die Entwicklung der Arbeiterbewegung in der Türkei und vor allem über den Kampf der Bergleute in Soma seit 2014. Er begann mit der Entwicklung der Arbeiterklasse in der Türkei. Er bezeichnete es als abwegig, die Türkei als halbfeudal oder halbkolonial einzustufen. „Spätestens seit Anfang der 1990er-Jahre wurden alle feudalen Reste komplett weggefegt.“ Damals habe es in der Türkei etwa 5 Millionen Industriearbeiter gegeben, heute sind es 35 Millionen. Seiner Vermutung nach ist das sogar der größte Arbeiteranteil in den europäischen Ländern.
In den letzten Jahren habe sich eine rasante Proletarisierung entwickelt. Er sieht eine imperialistische Tendenz der Türkei, die wirtschaftlich, politisch und militärisch auf dem Balkan, in vielen afrikanischen Ländern, im Mittleren Osten und teilweise auch in Asien agiert. Inwieweit sich dieser imperialistische Anspruch durchsetzt, sei eine andere Frage. Die Türkei hat inzwischen einen großen und wachsenden Anteil an der Weltkohleförderung.
Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand der Kampf der Bergleute in Soma. Dort hatten die Kapitalisten fahrlässig und vorsätzlich ein gewaltiges Grubenunglück mit 301 Toten und 400 Verletzten verursacht. Die erst wenige Jahre zuvor privatisierte und von einer AKP-Tochter übernommene Zeche hatte eine rasante Ausbeutung von Mensch und Natur vorangetrieben. Immer schneller und immer mehr Kohle wurde gefördert. Statt 1 Million Tonnen pro Jahr wurden 3,5 Millionen Tonnen pro Jahr gefördert und gigantische Zusatzgewinne erzielt. Sogar ein Schacht, der Frischluft zuführen sollte, wurde für den Kohleabbau genutzt. Dadurch entstanden so hohe Temperaturen, dass die Kohle zu brennen begann und über 300 Bergleute erstickten. Dem Unglück war vorausgegangen, dass der Konzern die Regierung gebeten hatte, ihn von seinen Sicherheitspflichten zu entbinden. Diesem Antrag wurde mehr oder weniger stattgegeben. Später wurde nachgewiesen, dass bei Einhaltung aller Sicherheitsvorkehrungen kein Bergmann hätte sterben müssen. Für die Förderbänder wurde billiges Material verwendet, das brennbar ist. Neun Manager wurden wegen fahrlässiger Tötung zu Haftstrafen zwischen 18 und 20 Jahren verurteilt, kamen aber nach fünf Jahren wieder frei!
Nach dem Unglück legte Kamil, der gerade zum Vorsitzenden seiner Gewerkschaft Bergbau und Energie gewählt worden war, sein Amt nieder und ging für acht Jahre nach Soma, um den Kampf der Bergleute zu unterstützen. Er schloss die Kumpel, von denen es dort 15.000 auf fünf Zechen gibt, und ihre Familien zusammen. Zur Beerdigung eines tödlich verunglückten Bergarbeiters, der bei einem weiteren Unglück auf der Zeche sein Leben verlor, kamen 6000 Bergleute. Es kam zu brutalen Übergriffen von Polizei, Faschisten und Militär. Gerade wegen dieses Angriffs legten am nächsten Tag die Bergleute auf allen Zechen in Soma die Arbeit nieder.
Es wurden zwei Märsche in die Hauptstadt Ankara organisiert. Einer im Jahr 2019 mit 3.000 Bergleuten und ein weiterer im Jahr 2020, der aufgrund der Corona-Pandemie verboten und eingeschränkt werden sollte. Beim zweiten Marsch nach Ankara wurde auch Kamil verhaftet - wegen einer mutigen Rede und einer Protestversammlung, die er mit den Bergleuten abhielt. Auch 35 weitere Bergleute wurden verhaftet, aber das konnte sie nicht bremsen. Die Bergleute organisierten gemeinsam mit fortschrittlichen Kräften in verschiedenen Städten Straßenblockaden, Brückenbesetzungen und es entstand eine breite Solidaritätsbewegung. Die Bergleute stellten Forderungen auf, die erfüllt werden mussten, damit sie nach Soma zurückkehren. So wurde erreicht, dass Kamil eine 15-minütige Rede im türkischen Parlament halten und die Forderungen der Bergleute vortragen konnte. Durch diesen konsequenten Kampf wurden die meisten Forderungen erfüllt: Lohnnachzahlungen, Arbeitszeitverkürzung von 45 auf 40 Stunden, Mindestlöhne und Sicherheitsbestimmungen sowie vier zusätzliche Urlaubstage.
Erst als die Selbstorganisation der Arbeiter in der Gewerkschaft stark genug war, kehrte Kamil 2021 nach Istanbul zurück und nahm seine Arbeit im Gewerkschaftsvorstand wieder auf.
Er berichtete auch, dass deutsche Konzerne wie E.ON, die die Kohle verbrennen, am Kohleabbau in der Türkei beteiligt sind. Sie betreiben dort auch die Minen. Es wurde diskutiert, wie die auf der 3. Internationalen Bergarbeiterkonferenz beschlossene Höherentwicklung der Koordinierung und Kooperation der Arbeiter in solchen Situationen aussehen muss. In der Diskussion wurde als Lehre hervorgehoben, dass nur wer kämpft, auch gewinnen kann. Auch die verschiedenen Kampfformen von Streiks, Blockaden, Demonstrationen, Volkskomitees und die Zusammenarbeit mit anderen fortschrittlichen Bewegungen bis hin zur Nutzung parlamentarischer Möglichkeiten wurden gewürdigt.
Der Abend machte deutlich: Hier ist ein Band des gegenseitigen Kennenlernens entstanden und wir verabschiedeten uns mit dem festen Versprechen, dass die Zusammenarbeit weitergehen und kein Kampf in Zukunft alleine stehen wird. "Wir werden auf jeden Fall alles tun, was in unserer Kraft steht, um die auf der internationalen Bergarbeiterkonferenz deutlich gewordene Kampfkraft weiter aufzubauen!", so das Fazit des Abends von Kamil Kartal.
Leider war die Mobilisierung für diese Veranstaltung nicht angemessen, so dass sie noch sehr klein war. Wir hoffen auf eine weitere Gelegenheit, von diesen Erfahrungen zu lernen und uns auszutauschen.