Zum Tod des Schriftstellers Martin Walser

Zum Tod des Schriftstellers Martin Walser

Kleinbürger-Sein als Emanzipation?

Im Alter von 96 Jahren starb am 28. Juli der Schriftsteller Martin Walser – in den Nachrufen als „einer der letzten Chronisten der alten Bundesrepublik“ bezeichnet und in einem Atemzug mit Heinrich Böll und Günter Grass als „Jahrhundert-Schriftsteller“ gerühmt.

Von Dieter Klauth

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reklamierte für Deutschland gar „einen Schriftsteller von Weltrang“, enthüllte zugleich aber den zutiefst kleinbürgerlichen Charakter des Walserschen Schaffens: „Alle Versuche, Martin Walser in eine politische oder weltanschauliche Ideologie einordnen zu wollen, verkannten, was diesen Schriftsteller im Inneren antrieb: den eigenen Empfindungen so wahrhaftig wie möglich Ausdruck zu verleihen.“ (1)

 

Wenn sich nur alles um das eigene Ich dreht, dann sind die Herrschenden zufrieden! Nicht die Betrachtung des Menschen als soziales Wesen oder gar das Streben nach sozialem Fortschritt verleiht Weltrang – jeder sei sich selbst der Nächste, dann ist alles in bester bürgerlicher Butter! Bereits zum 90. Geburtstag hatte ihn dafür auch die Linkspartei gerühmt: „Walsers Werk bleibt einer Unvollkommenheit treu, die sich dem koketten Götzen Utopie ebenso widersetzt wie dem koketten Götzen Untergang ... Das Kleinbürger-Sein ist auch Emanzipation! Ist Befreiung von den Agitatoren eines höheren Bewusstseins.“ (2)

 

Tatsächlich war Walsers Schreiben und Handeln von kleinbürgerlichen Schwankungen gekennzeichnet, die ihn zunächst nach links gegen das Bürgertum trieben, dann angesichts von Niederlagen der Arbeiterbewegung jedoch in eine als Selbstverwirklichung verstandene Unterordnung unter das kapitalistische System. Diese ging mit peinlicher Selbstentblößung einher, so wenn er sich in dem Buch „Ein liebender Mann“ mit der Altmännerliebe Goethes zu einer 19-jährigen Schönheit beschäftigte.

 

In seinem ersten Roman „Ehen in Phillipsburg“ brachte Walser 1957 die Verzweiflung eines gescheiterten Intellektuellen durch die Verbindung mit dem Tod eines großen Revolutionärs zum Ausdruck: „Vor Wochen ist Stalin gestorben. Ich saß, hielt den Atem an mit erhobenen Händen.“ (3)

 

In den 1960er Jahren blieb Walser links, protestierte gegen den Vietnamkrieg und näherte sich den Kommunisten: „Ein Verbrechen ein Verbrechen zu nennen, kann nicht sinnlos sein. Wenn nämlich diesem Krieg der nächste und der übernächste folgen werden, dann ist es wichtig, was Zeugen festgestellt haben. Dann wird ein Gesellschaftsystem, das zu seiner Erhaltung ohne solche Kriege nicht auszukommen glaubt, einer zunehmenden Diskriminierung verfallen.“ (4) 

 

Dass auch die einstmals sozialistische Sowjetunion zu einem imperialistischen Land degenerierte, das ungerechte Kriege führte, erschütterte Walsers Linksentwicklung und trieb ihn in die Anpassung. Doch auch dabei geriet er in Schwierigkeiten, weil er opportunistisch den kapitalistischen Klassencharakter des Faschismus verdrängte und so das bestehende System verharmloste.

 

In einem Artikel auf Rote Fahne News zur Leipziger Buchmesse 2007 wurde Walser vereinfachend als "strammer Antikommunist" qualifiziert (5), statt sachlich aufzuzeigen, wie seine kleinbürgerliche Anpassung politisch in die Irre führte. Walser drehte sich bis zuletzt vorwiegend um sich selbst und trennte sich dadurch von den fortschrittlichen Kräften. Anzuerkennen ist allerdings, dass er noch im Mai 2022 zu den Unterzeichnern eines offenen Briefs an Bundeskanzler Scholz gehörte, der sich gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine richtete. Damit knüpfte er an seinem Lebensende an seinen früheren Antikriegskampf an.