Nach Mord an Jugendlichem durch die Polizei
Frankreich: Berechtigte, teilweise anarchistisch beeinflusste Jugendrebellion
Am 27. Juni ist in Nanterre in der Banlieue von Paris der 17-Jährige Nahel bei einer Polizeikontrolle erschossen worden.
Ein Video, das eine Passantin aufgenommen hat, zeigt es und Augenzeugen bekräftigen: Das war keine Notwehr! Angeblich sei der Jugendliche mit dem Auto auf die Polizisten zugefahren. Diese standen aber ganz augenscheinlich neben dem Auto und nichts fuhr auf sie zu. Es ist widerlich, wenn die französische Premierministerin Elisabeth Borne die seit drei Tagen andauernden Jugendproteste als "unerträgliche und unentschuldbare" Ausschreitungen beschimpft. Ja, die Jugendlichen müssen von einer teilweise noch blinden Rebellion zum organisierten Kampf gegen Polizeigewalt, Rassismus und Faschisierung des Staatsapparats finden, wie er gestern auf einer großen Demo in Nanterre bereits zum Ausdruck kam. "Unerträglich und unentschuldbar" aber ist der feige und rassistisch motivierte Mord an einem Jugendlichen durch aufgehetzte Polizisten!
Fabien Jobard ist Wissenschaftler und Experte für Polizeigewalt in Frankreich. Ein Reporter der Süddeutschen Zeitung führte ein Interview mit ihm. Darin sagt Jobard auf die Frage, warum die Menschen in ganz Frankreich jetzt so besonders wütend sind: "Wahrscheinlich wegen der Videoaufnahme, die sich im Netz verbreitete. Sie lässt keinen Zweifel, dass der Schuss des Polizisten durch nichts zu rechtfertigen ist, weder rechtlich, noch aus der Situation heraus. Es bestand keinerlei Gefahr, als er zu seiner Handfeuerwaffe griff. Noch wichtiger ist das, was man auf dem Video hören kann. 'Shoot le!', erschieß ihn, sagt der eine Polizist. Der andere, der dann geschossen hat, sagt: 'Ich schieß dir eine Kugel in den Kopf.'"
Am Donnerstag fand in Nanterre eine organisierte Demonstration mit 6.000 Menschen statt unter der Forderung "Gerechtigkeit für Nahel" und der Losung der Black-Lives-Matter Bewegung "No Justice, No Peace" und "Polizei tötet". Eine der Organisatorinnen der Demo war die Mutter des ermordeten Jugendlichen. In zahlreichen weiteren Städten fanden Proteste und Demonstrationen statt. In den bürgerlichen Medien in Deutschland sieht man natürlich wieder in erster Linie brennende Autos. Aber es entwickelt sich offensichtlich organisierter Protest gegen die Rechtsentwicklung und faschistoide Erscheinungen im französischen Polizeiapparat. Die Regierung setzt landesweit 40.000 Polizisten ein.
Sie kommt aber nicht umhin, auch die Polizei zu kritisieren. Immerhin wurden Macron und Borne von der UN dazu aufgefordert: "Wir sind besorgt über die Tötung eines 17-Jährigen nordafrikanischer Abstammung durch die französische Polizei. Dies ist ein Moment für das Land, sich ernsthaft mit den tiefgreifenden Problemen des Rassismus und der Rassendiskriminierung in der Strafverfolgung auseinanderzusetzen“, so die Sprecherin des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Ravina Shamdasani.
Staatspräsident Emmanuel Macron hat jetzt bei einem Krisengipfel Kritik an der Polizeigewalt geübt. Dabei tut er aber so, als ob die Regierung rein gar nichts damit zu schaffen habe. Es ist doch aber die Rechtsentwicklung der Regierung und der bürgerlichen Parteien, die den Hintergrund darstellt. Es ist der am Parlament vorbei durchgepeitschte massive Angriff auf die Rechte der Arbeiterklasse; es ist die Nichtaufklärung der Morde an kurdischen Revolutionärinnen in Paris, die Kriminalisierung der Umweltbewegung und vieles mehr - alles Taten der französischen Regierung.
Dazu gehört auch ein Gesetz von 2017 zum Einsatz von Schusswaffen durch die Polizei. Es besagt unter anderem, dass Autofahrer vorsorglich erschossen werden können, "wenn man davon ausgehen muss, dass sie Terror verursachen oder ein Massaker anrichten wollen." Wann muss man denn davon ausgehen? Steht es Autofahrern aus den Banlieues oder aus dem Maghreb ins Gesicht geschrieben? Im Unterschied zum Gesetzesentwurf wurden die Begriffe "Terror" und "Massaker" im eigentlichen Gesetzestext gar nicht mehr erwähnt. Es kann also jede und jeder am Steuer eines Autos erschossen werden, wenn es in die Nähe von Polizisten gerät. Seit dieses Gesetz in Kraft ist, ging die Zahl von Erschießungen bei Polizeikontrollen und Ordnungswidrigkeiten steil nach oben.
Eine junge Aktivistin aus dem "Freundeskreis Mouhamed" überlegt, wie sie Kontekt zu den Jugendlichen in Nanterre aufnehmen kann. Mouhamed war ein junger Flüchtling aus dem Senegal. Er wurde von der Polizei in Dortmund erschossen. Er hat keinerlei Absicht gehabt, eine Gewalttat zu verüben. Gerechtigkeit für George Floyd! Gerechtigkeit für Mouhamed! Gerechtigkeit für Nahel!