Rammstein
Lyrisches Ich? Till Lindemann kann sich nicht hinter einem literaturwissenschaftlichen Begriff verstecken!
In der Nachtschicht dringt durch den Krach der Maschinen und Fließbänder plötzlich die Frage eines Kollegen zu mir durch: „Haste gehört, Rammstein? So abartig!“ Ja, ich habe es natürlich gehört. Die aktuelle Massendebatte über Sexismus hat meinen Betrieb erreicht und ich freue mich, dass mein Kollege zu mir kam, um darüber zu diskutieren. Wir sind uns schnell in sehr vielen Fragen einig – bis ich die Vergewaltigungsgedichte von Till Lindemann anspreche. Hier sagt mein Kollege: „Is' ja nur sein Lyrisches Ich.“
Ich nehme das zum Anlass, ein paar literaturtheoretische Zeilen zu schreiben. Die Arbeiterklasse braucht auch in diesen Fragen Klarheit, um sich nicht vom bürgerlichen Literaturbetrieb verwirren zu lassen. Vor Literaturtheorie braucht man auch keine Angst zu haben. Jeder wird schnell den Betrug mit dem Lyrischen Ich verstehen können.
In der Literaturwissenschaft unterscheidet man zwischen dem Autor eines Textes und dem Erzähler in einem Text. Wenn in einer Fabel die Tiere miteinander sprechen, müssen wir uns keine Sorgen darüber machen, dass der Autor tatsächlich Tiere reden hört. Er hat einen fiktiven Erzähler erschaffen, der uns darüber berichtet.
Diese Instanz wird in Gedichten als Lyrisches Ich bezeichnet. Wenn ich schreibe: „In der Arktis war es früher noch kalt / Heute brennt auf Grönland ein Wald.“, dann hat meine Wenigkeit als Autor ein lyrisches Ich geschaffen, das aus einer Zukunft berichtet, in der die Eismassen geschmolzen und sogar schon Wälder gewachsen seien, die nun wegen der fortschreitenden Klimakatastrophe in Flammen stehen würden. Ich lebe natürlich nicht in diesem „Heute“. Noch haben wir ja Eis auf Grönland. Ich habe einem Lyrischen Ich eine Stimme gegeben, um die Zerstörungskraft der globalen Umweltkatastrophe zu versinnbildlichen.
Der metaphysische, vereinzelnde und verabsolutierende Umgang mit diesem grundsätzlichen literarischen Gestaltungsprinzip führt allerdings dazu, dass man den Autor vollständig ausklammert und jede Frage nach ihm kategorisch abweist. Es gibt aber eine dialektische Beziehung zwischen dem Autor und dem Lyrischen Ich, weil der Autor es so und nicht anders gestaltet hat.
Till Lindemann hat sich aus allen möglichen Themen Vergewaltigung ausgesucht und sich dann bewusst dazu entschieden, ein Lyrisches Ich zu gestalten, das der sexualisierten Gewalt frönt. Der Autor hat die volle Verantwortung für sein Lyrisches Ich und all die Weltanschauung, die darüber transportiert wird.
Ein geschriebenes Gedicht ist kein gefallener Würfel. Jeder literarische Text ist im Wesentlichen nichts Zufälliges oder Beliebiges. Die Einheit von literarischen Formen und weltanschaulichem Inhalt wird bewusst vom Autor hergestellt. Die Literaturtheorie hat die Aufgabe, diese dialektischen Beziehungen zu untersuchen, um einen wissenschaftlichen Umgang mit Literatur zu ermöglichen. Die Taschenspielertricks des bürgerlichen Literaturbetriebs nutzen wissenschaftliche Begriffe, um mit ihnen die frauenfeindliche Haltung eines Autors zu verschleiern. Das ist nicht nur ein Angriff auf die Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft, sondern auch auf die Hälfte der Menschheit.