Berlin

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Gedanken am 17. Juni

Ich war am 17. Juni 1953 in Stuttgart und hatte schon am 16. von dem Arbeiterstreik in Ostberlin gehört, was mich sehr interessierte, weil ich ja 1951 illegal schon bei den Weltjugendfestspielen in Ostberlin gewesen war.

Jörg Irion

Damals waren wir von Stuttgart bei „Nacht und Nebel“ in einer Gruppe von drei Jugendlichen und zwei Jugendleitern ohne Kenntnis meiner Eltern - offiziell war ich auf einem Pfadfindercamp in der Nähe von Schwäbisch Gmünd - Gast bei der Jugendbrigade „Die Raben“ in der damaligen Stalinallee.

 

Die Erlebnisse damals waren für mich umwerfend. Die Jugendlichen der Brigade waren zwischen 12 und 18 Jahren alt, in zwei Mädchen- und drei Jungensgruppen eingeteilt. Sie waren mitverantwortlich für das Gelingen der Weltjugendspiele. Sie kümmerten sich um uns, waren selbstbewusst und fühlten sich verantwortlich, wie ich das aus dem Westen überhaupt nicht kannte. Die meiste Zeit waren wir in der neuen Sporthalle an der gerade ein paar Tage alten „Stalinallee“ und dem von den Komsomolzen der Sowjetunion gestifteten Stalindenkmal schräg gegenüber und wohnten auch in einem Haus am Weberplatz bei den „Raben“.

 

Auffallend viele dieser ganz jungen Mädchen und Jungens traten auf den Veranstaltungen im Sportpalast auch öffentlich auf mit Vorführungen und Reden. Dabei erfuhren wir auch, dass jede Brigade damals das Recht hatte, in jedem politischen Gremium und auf jeder Ebene zwei Delegierte bei allen Entscheidungen die Jugendarbeit betreffend zu haben. Ohne ihre Zustimmung konnte nichts verabschiedet werden. Da galt jede Stimme. Darauf waren sie sehr stolz und sehr engagiert. Auffallend fand ich auch, wie die Jungens und Mädchen sich mit ihren Leiterinnen und Leitern auseinandersetzten, auf gleicher Augenhöhe. Das hat mich sehr beeindruckt, auch wenn ich inhaltlich wenig in Erinnerung habe. Außer, dass sie sehr viel und oft vom Sozialismus gesprochen haben, den sie anpacken und umsetzen wollen, für eine lebenswerte Zukunft, gerade nach den Erlebnissen mit dem Faschismus und der noch nicht erreichten Vereinigung Deutschlands danach.

 

Wir drei Jugendlichen aus dem Westen wurden deshalb viel gefragt nach dem, was wir als Jugendliche tun, was wir erleben im Westen usw. Ich konnte berichten, dass mein Antrag auf die Mitgliedschaft in der FDJ abgelehnt worden war, weil das Verbot der FDJ beantragt war und gerade umgesetzt wurde. Diese Ablehnung hatte ich nicht verstanden und die auch nicht. Weil wir illegal in Ostberlin waren, mussten wir nach vier Tagen wieder heimlich abreisen, die Grenze nachts überqueren. Dazu haben uns einige Jugendliche bis zur Grenze begleitet.

 

Erst als ich 1954 einen kurzen Besuch in Ostberlin bei zwei der Raben machte, erfuhr ich, dass den Jugendbrigaden dieses Delegiertenrecht Anfang September 1953 abgenommen wurde – zumindest soweit, dass höchstens noch die „Mehrheit“ sich durchsetzte – und meine zwei Raben auffallend resigniert waren, weil „alles von oben dirigiert wurde“, wie sie sagten. Das gleiche Verbot betraf damals auch die Arbeiter, allerdings wurde denen zunächst nur in Berlin und nach und nach, bis Ende 1954 dann in Buna und Leuna auch diese Rechte vollständig abgenommen.

 

Die Bedeutung dieses Rechtsentzuges ist mir allerdings erst gegen Ende der 1950er Jahre klarer geworden. Damit war ja eine wesentliche Grundlage für den Aufbau des Sozialismus weggefallen. Es wurde zunehmend bürokratisch von oben nach unten durchregiert. Die Bestätigung dieser meiner Feststellung bekam ich dann 1962/63 durch den Bezug der „Peking-Rundschau“ und von „China im Bild“ und der 1963 erschienenen „Generallinie“, wo die Entwicklung in der UdSSR und den anderen „Ostblockstaaten“ mit der „Restauration des Kapitalismus“ und dem Verrat am Sozialismus charakterisiert und belegt wurde.

 

Solche Gedanken gehen mir heute natürlich am 17. Juni durch den Kopf und Euer Artikel am 16. Juni auf Rote Fahne News hat das ja auch gut dargestellt. Wichtig ist mir, dass es sich dabei um einen Prozess handelt, der vor 1956 schon eingeleitet wurde. Das ist wichtig für jede Auseinandersetzung mit Jugendlichen, Älteren und Kolleginnen und Kollegen, die das teilweise noch selbst erlebt haben, ohne größere Konsequenzen im Denken und Handeln daraus gezogen zu haben, aber die Möglichkeit dazu immer noch haben.