Erlebnis eines Hausarztes aus dem Odenwald
95 Jahre und wirklich weise ...
Seit Beginn meiner Rentenzeit, vor fünf Jahren, besuche ich etwa einmal im Jahr einen früheren Patienten – und alten Freund.
Er wurde kürzlich 95. Leider ist er mittlerweile fast taub. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat er Abitur gemacht, war Landwirt und Gastwirt, und ist bis heute engagierter Hobbyzeichner.
Ich treffe ihn in seiner Küche an, nachdem er gerade die letzten Kartoffeln in seinem Garten gepflanzt hat. Nach einer beiderseits freudigen Begrüßung läuft er schnell zur Hochform auf. Ich bedaure sehr, dass ich kein Aufnahmegerät dabei habe, denn er hat nicht nur viel zu sagen, sondern findet auch klare Worte – zu den bedeutendsten aktuellen Fragen.
Sinngemäß in etwa so:
„Der Kapitalismus ist dabei die Natur zu zerstören. Und er hat keine Antworten, das zu verhindern.“ „Es hat Männer wie Marx und Lenin gebraucht, um wirkliche Wissenschaft zu erzeugen.“ „Die Religion war und ist Machtmittel der Reichen. Und sie ist aus der früheren Unerklärbarkeit der Natur entstanden.“ „Die Theorie und die Praxis müssen sich gegenseitig befruchten – zur Höherentwicklung“.
Das sind nur wenige Bausteine aus seiner durchaus zusammenhängenden Philosophie, die er bestimmt nicht aus seiner Tageszeitung, dem Odenwälder Echo, hat. Umso mehr habe ich einen Bauklotz nach dem anderen gestaunt. Von abgehobener, grauer Theorie hält er gar nichts: „Wir brauchen jetzt neue Ideen und Methoden, zum Beispiel in der Landwirtschaft, wegen der häufigeren Trockenheit und Dürre“. Er ist ganz erpicht darauf, sein „Lebenswerk“ an seine Familie weiterzugeben. Und ich werde ihn künftig - mindestens - zweimal im Jahr besuchen.