Göttingen
Klassenstandpunkt in der Naturwissenschaft?
Am Donnerstag, 11. Mai, fand an der Universität Göttingen die Vorlesung und Diskussion mit dem Physiker Christian Jooß zum Buch „Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft“ von Stefan Engel statt. Es kamen etwa 35 Besucherinnen und Besucher, überwiegend Studierende beziehungsweise Intellektuelle.
Die Vorlesung wurde kurzfristig in das Programm zur Besetzung der zentralen Hörsaalgebäude durch Studierende der Gruppe End Fossil Occupy, die einen Tag vorher begann, integriert. Es entstand eine lebendige, teils auch kontroverse Diskussion. Die Veranstaltung brachte auch die volle Solidarität mit der Hörsaalbesetzung der Studierenden ebenso wie der Besetzung des Otto Hahn Gymnasiums in Göttingen zum Ausdruck, die in den nächsten Tagen weitergeht.
Die Vorlesung behandelte anschaulich mit Folien die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft in der Schwerpunkten Umweltforschung, Astrophysik, Biologie, Medizin und Psychologie. Auch die Krise der Urknalltheorie, die im offenen Widerspruch zu dem ungeheuren Erkenntnisfortschritt der Beobachtungen des Kosmos durch moderne Teleskope steht, wurde anschaulich deutlich.
In der Diskussion kam zum Ausdruck, dass es Zustimmung gibt zur konkreten Kritik an den verschiedenen Erscheinungsformen der Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft. Aber dass sie einen Klassencharakter hat und ihre Wissenschaftlichkeit durch die bürgerliche Ideologie untergraben wird, war kontrovers. Ein Physikingenieur äußerte, „dass er durchaus erahnen kann, dass dies eine gemeinsame Ursache in der herrschenden bürgerlichen Weltanschauung habe, aber es ihm noch schwer falle das zu greifen“.
Ein anderer Teilnehmer vertrat, „dass die Anwendung der Mathematik zwar von Interessen geleitet ist, aber die Mathematik als Handwerkszeug ideologiefrei sei“. Dem wurde begegnet, dass grundsätzlich keine ideologiefreie Wissenschaft gibt und auch die Mathematik nicht ideologiefrei ist. Sie ist nur materialistisch, wenn sie näherungsweise bestimmte Seiten der Wirklichkeit widerspiegelt. Das macht als allererstes notwendig, die Qualität einer Erscheinung richtig zu bestimmen. Die Klimaprognosen der bürgerlichen Klimaforschung ignorieren oder unterschätzen die selbstverstärkende Entwicklung durch Kipppunkte, blenden somit die neue Qualität der Umweltkatastrophe aus und kommen so auch quantitativ zu verharmlosenden Einschätzungen. Ein Mathematiker klärte, dass „selbst die Axiome der Mathematik nicht ideologiefrei sind, wie schon Immanuel Kant begründete“.
Ein weiterer Besucher äußerte Kritik an der Aussage, dass die Krise der Naturwissenschaft nur auf der Grundlage des dialektischen Materialismus überwunden werden kann, und daher erst in einer sozialistischen Gesellschaft: Er vertrat, „dass es doch anzustreben wäre, eine möglichst weitgehend von den Einflüssen einer Ideologie befreite Wissenschaft zu entwickeln, auch in einer sozialistischen Gesellschaft.“ Dem begegnete Christian Jooß, dass auch im Sozialismus der weltanschauliche Klassenkampf weiter geht zwischen dem Einfluss der bürgerlichen Ideologie und dem dialektischen Materialismus als Weltanschauung der Arbeiterklasse. Er wird erst in der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft allmählich absterben, wenn auch die Trennung von Hand- und Kopfarbeit überwunden ist.
Ein Diskussionsbeitrag kritisierte das Bestreben, revolutionäre Parteien wie die MLPD aus der Umweltbewegung herauszuhalten: „Vielfach wird in der Kapitalismuskritik von Karl Marx nur die politische Ökonomie aufgegriffen, aber die Schlussfolgerung daraus, den Klassenkampf der Arbeiter mit allen Verbündeten zu entwickeln, ausgeklammert“. Auch Karl Marx war nicht nur Theoretiker, sondern organisierte in der Praxis den Aufbau der Arbeiterorganisationen der Kommunisten. Das ist auch heute eine wichtige Aufgabe, gerade im Kampf für die Rettung der Umwelt, weshalb eine Zensur der MLPD durch einige bürgerliche Kräfte fehl am Platz ist.
Die Veranstaltung endete mit einem Plädoyer des Referenten, den gesellschaftsverändernden Kampf um das Überleben der Menschheit zu organisieren, was nur möglich ist, wenn er zusammenkommt mit dem Kampf um die Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse. Das braucht ein weltweit neues Ansehen des Sozialismus und Fertigwerden mit dem Antikommunismus. Viele Besucher waren nachdenklich, aber meist noch nicht restlos überzeugt, diesen Weg zu gehen.