Erdbebenforschung
Vom Aberglauben über die Religion bis zur Wissenschaft
Die Menschheit weiß heute über die Ursachen von Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Bergstürzen relativ gut Bescheid. Über Hunderttausende Jahre lang deuteten die Menschen in der Urgesellschaft die Phänomene als Kräfte mystischer Geister.
Die Folgen waren in der Regel noch harmlos, so lange es keine festen, von vielen Menschen bewohnten, Bauwerke aus Stein gab. Mit den aufkommenden Religionen in den Klassengesellschaften wurden Erdbeben als Ausdruck eines göttlichen Willens angesehen. Die christliche Religion legte sie als Strafe Gottes aus. Das diente vor allem als Drohung gegenüber der Masse der Ausgebeuteten und Unterdrückten, damit sie sich freiwillig der herrschenden Moral unterordnen.
Das änderte sich im Zeitalter der Aufklärung. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus entstanden große Städte. Naturkatastrophen, wie Brände, Überschwemmungen und Erdbeben, hatten viel gravierendere Auswirkungen. 1775 vernichtete ein großes Erdbeben fast die ganze portugiesische Hauptstadt Lissabon. Joachim Käppner schildert in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 25. / 26. Februar die damalige Wirkung. Mit dem unheilvollen Bersten der Erde ging auch eine Erschütterung des Glaubensdogmas einher. Er schreibt: „Spöttisch bemerkte Goethe, die Geistlichkeit habe es nach dem Beben an Strafpredigten nicht fehlen lassen, er selbst aber konnte derlei nicht mehr glauben, denn Gott habe sich, 'indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen'.“
Eine katholische Stadt wurde an einem heiligen Feiertag getroffen und alles wurde mitsamt der Gotteshäuser zertrümmert. Nur das Viertel der Räuber und Prostituierten wurde verschont. Der französische Philosoph Voltaire spottete, „wie denn der Herr, wenn er denn so allmächtig sei, solches Leid zulassen könne.“ Mit Lissabon begann auch ein wissenschaftlicher Umgang mit Erdbeben. Vergleichende Untersuchungen wurden angestellt, warum welche Gebäude den Erdstößen standhielten und weshalb andere nicht.
Das war die Gründungsstunde der Seismologie. Sie wurde zwischen 1890 und 1900 als Wissenschaft entwickelt und gilt als die Lehre von Erdbeben und der Entstehung und Ausbreitung von seismischen Druckwellen innerhalb der Erdkugel. Auslöser sind große innere Kräfte: zum einen durch Entladung von Spannungen bei der Verschiebung von Kontinentalplatten. Zum anderen durch künstlich ausgelöste Explosionen, z. B. durch Sprengungen im Tunnelbau oder durch Atombombenversuche. Später nahm der US-amerikanische Geologe Charles Francis Richter Messungen der Stärken der seismischen Wellen vieler Erdbeben vor und teilte sie in qualitative Stufen ein. Auf der Grundlage entwickelte er in den 1930er-Jahren die heute gültige „Richterskala“ von eins bis zehn. Diese Stärkeeinheiten sagen aber nur etwas über die Zerstörungskraft der freigesetzten Energie aus. Für das tatsächliche Ausmaß der Zerstörung sind auch noch viele andere Faktoren wesentlich. Die höchste Stufe von 9,5 hatte 1960 ein Erdbeben in Chile. Weltweit wurden 14 schwerste Erdbeben über Stufe acht in der Zeit von 1900 bis 2017 nachgewiesen. Die aktuelle Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien wurde mit Stärken von 7,4 und 7,9 auf der nach oben offenen Richterskala gemessen.
Die Seismologie kann Vorgänge im Erdinneren erkennbar machen, die unmittelbar sinnlich durch Menschen nie erfahrbar wären. Sie wird unter anderem bei der Erkundung großer Rohstoff- und Energielager (Gas, Erdöl) angewandt. Das Wissen wird jedoch bis heute spärlich für vorsorgende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung angewandt. Man kann zwar keine konkrete Erdbebenvorhersage machen, aber man kennt die möglichen Regionen und das Potenzial, das sich aufstaut: die Dialektik von Zufälligkeit und Notwendigkeit. Es wäre möglich, Besiedlung und Art der Bebauung in allen erdbebengefährdeten Regionen abzustimmen, um Schäden an Leib und Leben möglichst gering zu halten. Der herrschende Pragmatismus vertraut dagegen darauf, dass man dies im Interesse der Profit- und Machtinteressen der Imperialisten einsparen könne. Gerechtfertigt wird das mit der zynischen Abwägung von Aufwand und Nutzen und der Hoffnung, dass es sich rechnet, weil ganz große Erdbeben relativ selten auftreten.