Der gute Mensch von Sezuan
Brecht-Stück mit offenem Ende begeistert das Publikum und fordert heraus
Kann ein guter Mensch gut bleiben in einer (kapitalistischen) Welt voller Eigennutz? Das ist die Grundfrage, die sich durchzieht von Anfang bis Ende und am Schluss letztlich offen bleibt. Das Publikum indes soll selbst eine Lösung und Vollendung des Stückes finden.
Der gute Mensch von Sezuan, Parabelstück von Bertolt Brecht mit Musik von Paul Dessau im Schauspielhaus Stuttgart
„Der gute Mensch von Sezuan“, erstmals 1943 in Zürich gespielt, gilt als ein Kernstück des epischen Theaters von Bertolt Brecht. Vermittelt wird eine Parabel, d.h. eine bestimmte Lehre, sie hat symbolische, verfremdete, zeichenhafte Bedeutung und geht über das unmittelbare Geschehen auf der Bühne hinaus. Dort treten in Erscheinung: Arme Unterdrückte, reiche Herrschaften und zwischen den Klassen diverse Aufsteiger. Alle Schauspieler verkörpern typisierende Rollen, die nicht in erster Linie eine konkrete individuelle Person darstellen, sondern gesellschaftliche Phänomene und Zusammenhänge sowie die ihnen zugehörigen Charaktere.
Drei Götter steigen vom Himmel herab und suchen einen guten Menschen, denn sie wollen beweisen, dass die Welt so bleiben kann wie sie ist – gut eben – schließlich haben sie selbst diese gemacht. Nichtsdestotrotz dringen immer mehr Klagen über die Unbewohnbarkeit der Erde zu ihnen hinauf. So begeben sich die Drei nach unten und treffen auf Shen Te, eine Prostituierte und spätere Tabakladenbesitzerin, die ihnen ein Nachtlager bereitstellt. Fortan gilt sie den Göttern als der gute Mensch von Sezuan, der einzige, welchen die Götter überhaupt bei ihrer Inspektionsreise entdecken können.
Vor Güte gegenüber Nachbarn sowie allen möglichen Kunden ihres Ladens, aber auch zu ihrem Geliebten Sun, einem ehemaligen Flieger, droht Shen Te jedoch bald im Desaster – heute würde man sagen in der Privatinsolvenz – zu enden. Denn alle wollen etwas von ihr – und davon immer mehr.
Um den vielen Sackgassen zu entkommen, in denen sie verzweifelt festsitzt, erfindet sie ihren Vetter Shui Ta. In dessen Rolle schlüpft sie mehrmals. Zum Beispiel vertreibt Shui Ta die Leute aus ihrem Laden, die sich dort eingenistet haben, oder er versucht, Shen Te mit dem Barbier Shu Fu zu verheiraten, der viel Geld hat. Auf diese Weise „ordnet“ der Vetter jedes Mal die Verhältnisse Shen Te's, so dass sie durch seine bösen Taten gut bleiben kann. Für die Leute von Sezuan ist und bleibt sie währenddessen der „Engel der Vorstädte“ – von ihrem Doppelleben ahnen sie nichts.
Am Schluss aber wird das falsche Spiel aufgedeckt und Shui Ta vor Gericht gestellt unter dem Verdacht, seine plötzlich verschwundene Cousine entführt oder gar ermordet zu haben. Angesichts der heftigen Anwürfe gegen ihn aus den Reihen des Volkes outet er sich schließlich als Shen Te und streift die ihn/sie bis dahin verdeckende Verkleidung ab. Die Götter, die zugleich als oberste Richter in diesem Prozess fungieren, üben allerdings Nachsicht mit ihr, da sie den einzigen guten Menschen, den sie zum Beleg für ihre „gute“ Welt fanden, nicht an das Böse verlieren wollen.
Shen Te selbst aber hält sich keineswegs für gut, höchstens für gut und gleichzeitig böse, vergeblich sucht sie den Göttern den ihr von ihnen verliehenen Titel auszureden. „Wie soll ich gut sein, wo alles so teuer ist?“, stellt sie neben vielen weiteren brennenden Fragen eine, die auch 80 Jahre nach der Uraufführung höchst aktuelle Brisanz besitzt.
Sehr eindringlich wirkt dann der Schlussepilog der Schauspieler, den die Zuschauer mit auf den Nachhauseweg bekommen:
„Vornehmes Publikum, jetzt keinen Verdruss:
Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluss.
Vorschwebte uns: die goldene Legende.
Unter der Hand nahm sie ein bitteres Ende.
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
(…) Was könnt die Lösung sein?
Wir konnten keine finden, nicht einmal für Geld.
Soll es ein anderer Mensch sein? Oder eine andere Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine? (...)
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“
Wunderbar gespielt wird die Doppelrolle der Shen Te/Shui Ta von Paula Skorupa. Die gelungene Inszenierung verantwortet Tina Lanik, die tolle Musik steuert die „Sezuan Electric Band“ bei. Die zum Teil rasante und zum Teil lethargisch nachdenkliche Stimmung des Geschehens auf der Bühne geht an manchen Stellen ruckartig über in so etwas wie eine Rockoper, wobei auch weitere hervorragende Akteure des Ensembles neben Paula Skorupa ihre Sangeskunst und -lust beweisen.
Das Publikum reagiert begeistert – nicht nur bei der Aufführung, in der ich persönlich anwesend war, sondern, wie man verschiedenen Rezensionen entnehmen kann, generell – oftmals ist Erheiterung zu bemerken und Gelächter vernehmbar, immer wieder mal gibt es Applaus auf offener Szene.
Wer also nach neuen Perspektiven und Alternativen sucht, gerade in den heutigen nicht wenig besorgniserregenden Zeiten – für sich selbst und/oder gemeinsam mir anderen – dem sei das Stück ans Herz gelegt. Es dauert knapp drei Stunden, sodass man vielleicht einen zweiten Abend wählt, um sich gegebenenfalls mit Mitbesuchern über das Gesehene auszutauschen. Ganz im Sinne des Epilog-Auftrags!
Weitere Stuttgarter Aufführungen von „Der gute Mensch von Sezuan“, jeweils um 19:30 Uhr
- 6. November 2022
- 28. November 2022
- 16. Dezember 2022
- 21. Dezember 2022
- 15. Januar 2023
- 28. Januar 2023