Iran
„Das Land zusammenhalten, damit kein Krieg ausbricht?“ - Diskussion im Betrieb
Mein türkischer Kollege ist nach fünf Wochen aus der Türkei zurück. Wir diskutieren angeregt die neuesten Entwicklungen in der Weltlage. Er ist fortschrittlich und Erdoğan-Gegner, aber hat noch sozialdemokratische Illusionen. Zwar stimmt er zu, dass „alle Regierungen der Welt komplett ausgetauscht gehören.“ Aber dass eine sozialistische Revolution die einzige Möglichkeit ist, um grundlegend was an den Verhältnisse zu ändern, davon ist er noch nicht überzeugt.
Allerdings war ich überrascht darüber, wie die türkischen Medien seine Meinung in eine klar sozialchauvinistische Richtung gebracht hatten. Er sagte: „Die Proteste im Iran mögen zwar ihre Berechtigung haben. Aber es ist einfach der falsche Zeitpunkt. Es ist nicht gut, dass die Menschen auf die Straße gehen, wo rundherum Krieg droht.“ Ich kritisiere seine Einschätzung und lege dar, dass die Proteste, weil sie völlig berechtigt sind, auch zu diesem Zeitpunkt ihre volle Berechtigung haben. Es ist genau richtig, dass die iranischen Massen, voran die Arbeiter und die Frauen, sich gegen das reaktionäre Regime wehren. „Aber nicht jetzt. Wenn außenpolitisch Kriegsstimmung herrscht, muss das Land geschlossen sein“, meint er. Zu welchem Zeitpunkt ist denn seiner Meinung nach Protest richtig? Wenn gerade „Ruhe herrscht“? Zeiten der relativen Ruhe sind eben keine Zeiten, in denen die Menschen nicht mehr leben wollen und können wie bisher – und deshalb auf die Straße gehen. Ich wähle das Beispiel der Novemberrevolution in Deutschland: In den ersten Kriegsjahren zogen die Arbeiter für den Kaiser in den Krieg – doch sie zogen im vierten Jahr den Schlussstrich unter Hunger, Armut und Tod und beendeten den Ersten Weltkrieg und die Herrschaft des Kaisers mit der Novemberrevolution.
Das fand mein Kollege interessant – aber es überzeugte ihn nicht. Er beharrte darauf: „Trotzdem. Jetzt müssen die Menschen im Iran erst mal zusehen, dass kein Krieg ausbricht und dafür als Land zusammenhalten.“ Ich versuchte einen anderen Weg: „Das ist ein nationalistischer Standpunkt! Dein Argument ist genau das, was die Herrschenden ihrer Bevölkerung immer sagen: „Wir müssen als Nation zusammenstehen; jetzt ist keine Zeit zu kämpfen, wir haben Krise!“ Als gäbe es keine Klassen mehr. Das gleiche sagt uns Gesamtmetall momentan in der Tarifrunde doch auch: „Wir sitzen alle in einem Boot; wir haben Krise! Das ist der falsche Zeitpunkt zu kämpfen.“ Er guckt mich - erstaunt ob des Vergleichs - an. Aber es stimmt, die Sprüche kennt er nur zu gut. Weiter: „Damit wollen sie nichts anderes als Burgfrieden. Sie wollen auf unsere Kosten ihre Krisen und ihre Kriege durchsetzen und uns nur vom berechtigten Kampf gegen sie abhalten. Während sie die dicksten Gewinne seit 30 Jahren einfahren und wir nicht mehr heizen können?“ Wir sind uns einig, dass wir für 8 Prozent mehr Lohn und sogar Lohnnachschlag kämpfen müssen – und dass der Zeitpunkt dafür jetzt ist.
Kleinbürgerlich-nationalistische Einflüsse finden ihren Weg zum Sozialchauvinismus unweigerlich. Mit kritischer Auseinandersetzung kann und muss das überwunden werden.