Dokumentiert

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Ein prominenter englischer Liberaler über Marx

Den folgenden Brief hat Sir Mountstuart Elphinstone Grant Duff im Jahre 1879 an die älteste Tochter der englischen Königin Viktoria, die Mutter Kaiser Wilhelms II., geschrieben. Er findet sich in dem Buch „Erinnerungen an Karl Marx“, das im Jahr 1953 im "Dietz Verlag", Berlin, DDR, erschienen ist. Der Text wurde am Tag des Offenen Denkmals an der Karl-Marx-Statue und der Lenin-Statue vor dem Willi-Dickhut-Haus in Gelsenkirchen vorgetragen. Die Rote Fahne Redaktion dokumentiert ihn an dieser Stelle:

Ein prominenter englischer Liberaler über Marx
Tag des Offenen Denkmals an der Karl-Marx- und Lenin-Statue vor der Horster Mitte / dem Willi-Dickhut-Haus in Gelsenkirchen am 11. September 2022 (rf-foto)

Gnädige Frau! Als ich das letzte Mal die Ehre hatte, Eure Kaiserliche Hoheit zu sehen, fügte es sich, dass Sie eine gewisse Neugierde über Karl Marx ausdrückten und mich fragten, ob ich ihn kenne.

 

Demzufolge entschloss ich mich, die erste Gelegenheit wahrzunehmen, um seine Bekanntschaft zu machen; aber diese Gelegenheit ergab sich erst gestern, als ich mich mit ihm beim Mittagessen traf und drei Stunden in seiner Gesellschaft verbrachte. Er ist ein kleiner, ziemlich schmächtiger Mann mit grauem Haar und Bart, der in eigenartigem Kontrast zu seinem noch schwarzen Schnurrbart steht. Das Gesicht ist etwas rund, die Stirn wohlgeformt und gewölbt, der Blick ist ziemlich streng, aber der ganze Ausdruck ist eher angenehm und keineswegs der eines Herrn, der kleine Kinder in ihren Wiegen zu fressen pflegt, was – wie ich wohl sagen darf – die Ansicht der Polizei über ihn ist.

 

Seine Rede war die eines gebildeten, besser noch, gelehrten Mannes, der sich sehr für vergleichende Grammatik interessiert, was ihn dazu geführt hatte, Altslawisch und andere ausgefallene Studien zu treiben, sie erging sich in vielen seltsamen Windungen und war mit einem trockenen Humor gewürzt; wenn er zum Beispiel über Hezechiells „Leben des Fürsten Bismarck“ sprach, bezeichnete er es immer als das Alte Testament, im Gegensatz zu Dr. Buschs Buch. Es war alles sehr positiv, leicht zynisch – ohne jeden Anschein von Enthusiasmus –, weckte das Interesse und zeigte oft, wie es mir schien, sehr richtige Ideen, wenn er über die Vergangenheit und die Gegenwart sprach, aber es war unklar und unbefriedigend, wenn er sich der Zukunft zuwandte.

 

Er erwartet, nicht ohne Grund, einen großen und nicht allzu fernen Umsturz in Russland und denkt, dass dieser mit Reformen von oben beginnen werde, die das alte, schlechte Staatsgebäude nicht werde aushalten können und die seinen völligen Zusammenbruch herbeiführen würden. Was an seine Stelle treten werde, darüber hat er augenscheinlich keine klare Idee, außer dass Russland für lange Zeit nicht in der Lage sein werde, irgend einen Einfluss in Europa auszuüben. Danach, denkt er, werde sich die Bewegung nach Deutschland ausbreiten und dort die Form einer Revolte gegen das bestehende militärische System annehmen.

 

Auf meine Frage: „Aber wie können Sie erwarten, dass sich die Armee gegen ihre Befehlshaber erheben wird?“, antwortete er: „Sie vergessen, dass in Deutschland jetzt die Armee und die Nation beinahe identisch sind. Jene Sozialisten, von denen sie hören, sind – wie alle anderen – ausgebildete Soldaten. Sie dürfen nicht nur an das stehende Heer denken. Sie müssen auch an die Landwehr denken, und sogar im stehenden Heer gibt es viel Unzufriedenheit. Nie gab es eine Armee, in welcher die Strenge der Disziplin zu so vielen Selbstmorden führte. Der Schritt von dem Entschluss, sich selbst zu erschießen, zu dem, seinen Offizier zu erschießen, ist nicht groß, und wenn ein Beispiel dieser Art einmal da ist, wird es bald nachgeahmt.“

 

Ich sagte: „Aber angenommen, die Herrscher Europas verständigten sich über eine Einschränkung der Rüstung, was die Belastung des Volkes beträchtlich erleichtern könnte, was würde dann aus der Revolution werden, von der Sie erwarten, dass sie eines Tages ausbricht?“ „Ach“, war seine Antwort, „dazu sind sie nicht imstande. Furcht und Argwohn jeder Art werden das unmöglich machen. Die Last wird mit dem Fortschreiten der Wissenschaft immer schlimmer werden; denn mit ihrem Fortschreiten wird die Vervollkommnung der Zerstörungskunst Schritt halten, und es müssen von Jahr zu Jahr steigende Beträge für teures Kriegsgerät aufgewandt werden. Das ist ein verhexter Kreis – daraus gibt es keinen Ausweg.“

 

Ich sagte: „Aber es hat bisher noch nie ernsthafte Volksaufstände gegeben, wenn nicht wirklich großes Elend herrschte.“ Er erwiderte: „Sie ahnen nicht, wie schrecklich die Krisis war, durch die Deutschland in den letzten fünf Jahren gegangen ist.“ „Nun“, sagte ich, „angenommen, dass ihre Revolution stattgefunden hat und dass sie ihre republikanische Regierungsform haben, so ist es immer noch ein langer, langer Weg bis zur Verwirklichung von ihren und ihrer Freunde besonderen Ideen.“

 

„Ohne Zweifel“, antwortete er, „aber alle großen Bewegungen sind langsam. Es würde das lediglich ein Schritt zur Verbesserung der Dinge sein, so wie es ihre Revolution von 1688 war – lediglich ein Schritt auf dem Wege.“

 

Obiges wird Eurer Kaiserlichen Hoheit eine ungefähre Vorstellung von der Art der Ideen über die nahe Zukunft Europas geben, welche in seinem Geist arbeiten. Sie sind zu träumerisch, um gefährlich zu sein,außer eben insofern, als die Situation mit ihren tollen Ausgaben für Rüstungen offensichtlich und unzweifelhaft gefährlich ist. Wenn jedoch innerhalb der nächsten zehn Jahre die Herrscher Europas nicht die Mittel gefunden haben, mit diesem Unheil fertig zu werden, ohne irgendeine Warnung vor der geplanten Revolution, werde ich für meine Person an der Zukunft der Menschheit verzweifeln, vor allem für unseren Erdteil.

 

Im Laufe der Unterhaltung sprach Karl Marx verschiedene Male über Eure Kaiserliche Hoheit und über den Kronprinzen, und jedes Mal mit gehörigem Respekt und Anstand. Sogar im Falle hervorragender Persönlichkeiten, von denen er durchaus nicht mit Respekt sprach, war kein Zeichen von Heftigkeit oder Wut zu spüren, sondern eine sehr beißende und tiefgründige Kritik, die er jedoch nicht im Tone Marats vortrug.

 

Über die entsetzlichen Dinge, welche man mit der Internationale in Verbindung bringt, sprach er so, wie es jeder anständige Mann getan hätte. Eine Sache, die er erwähnte, zeigte die Gefahren, denen Emigranten ausgesetzt sind, die einen revolutionären Ruf besitzen. Wie er erfahren hatte, hatte ihn der unselige Mann Nobiling¹ besuchen wollen, als er in England war. „Wenn er das getan hätte“, sagte er, „würde ich ihn sicherlich empfangen haben, denn er hätte mir seine Karte als Angestellter des Statistischen Amtes in Dresden gesandt, und da ich mich selbst mit Statistik beschäftige, würde mich eine Unterhaltung mit ihm interessiert haben.“ Er fügte hinzu: „In welch angenehme Lage wäre ich geraten, hätte er mich besucht!!“

 

Alles in allem war mein Eindruck von Marx angesichts der Tatsache, dass er mir völlig entgegengesetzte Ansichten hat, durchaus nicht ungünstig, und ich würde ihn gern wiedersehen. Nicht er wird es sein, der – ob er es wünscht oder nicht – die Welt auf den Kopf stellen wird … .

 

Gnädige Frau, ich habe die Ehre, zu verbleiben als Eurer kaiserlichen Hoheit dankbarster und treuester Diener.