Irak

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Tendenz zur gesamtgesellschaftlichen Krise

Ende Juli wurde das irakische Parlament in der Hauptstadt Bagdad innerhalb weniger Tage zweimal von überwiegend jungen Menschen gestürmt und besetzt. Zuvor versuchten Sicherheitskräfte, Tausende Demonstranten an der hoch gesicherten Grünen Zone mit Tränengas und Schallbomben zurückzudrängen.

Von einem Korrespondenten
Tendenz zur gesamtgesellschaftlichen Krise
Irakische Politiker. Vorne links: Muktada al-Sadr (foto: Reza Zamuni (CC BY-SA 4.0))

Zu der Aktion wurde aus Protest gegen die Nominierung von Muhammad Shiyah al-Sudani für das Amt des irakischen Ministerpräsidenten aufgerufen, der als Vertrauter des umstrittenen früheren Ministerpräsidenten Nuri-al-Maliki gilt. Ziel der Anhänger des schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr, die die Besetzung durchführten, war es, eine Regierungsbildung unter dem Einfluss des Ex-Regierungschef Nuri al-Maliki zu verhindern, der mit dem neuimperialistischen Iran kooperiert.

 

Al-Sadr setzt sich gegen das „Quotensystem“ ein, nachdem seit der Invasion der USA im Jahr 2003 im irakischen Parlament Ämter vergeben werden. Das Al-Sadr-Lager hatte die Parlamentswahlen im vergangenen Oktober gewonnen, konnte jedoch die notwendige Zweidrittelmehrheit nicht erreichen, die für die Präsidentschaftswahl erforderlich ist. Darauf trat im Juni 2022 das Al-Sadr-Lager mit seinen 73 Abgeordneten im Parlament zurück.

 

Die Tatsache, dass seit Oktober 2021 keine neue Regierung gebildet werden konnte und die aktuelle Zuspitzung kennzeichnnen eine Tendenz zu einer gesamtgesellschaftlichen Krise des Irak.

 

Ihr liegt eine tiefe Vertrauenskrise zugrunde, die auch durch die vorgezogenen Neuwahlen im Oktober 2021 nicht aufgefangen werden konnte. Im Gegenteil sank die Wahlbeteiligung mit 41 Prozent auf einem historischen Tiefstand. Auch wenn die Proteste im Irak seit Herbst 2019 im Umfang und bedingt durch die Corona-Pandemie zeitweilig zurückgegangen sind, halten sie seitdem an und umfassen immer mehr das gesamte Krisengeschehen. Sie haben eine breite Basis unter Lehrern, Studenten, Arbeitern sowie Frauen und sind geprägt von jungen Menschen. Immerhin ist der Irak mit einem Durchschnittsalter von 21 Jahren eines der jüngsten Länder der Welt und mit katastrophalen Lebensbedingungen konfrontiert.

 

Nach Schätzungen der Weltbank im Oktober 2020 verdoppelte sich die Armutsrate von 7 Prozent auf 14 Prozent, der Anteil der Menschen unterhalb der Armutsgrenze würde damit zirka ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Infolge der Weltwirtschafts- und Finanzkrise steigt die Arbeitslosigkeit weiter an, besonders unter der Jugend. Da der Staatshaushalt bis zu 90 Prozent der Steuereinnahmen aus der Öl-Industrie bezieht, gab es durch den Einbruch der Ölpreise (2020) Kürzungen bei Renten und Löhnen, sowie Entlassungen bei staatlichen Betrieben. Verschärft wird die Lage der Massen durch die große Wasserknappheit. Der steigende Salzgehalt der Gewässer im Irak und das Verklappen von Industriemüll in die Flüsse sorgen für eine massive Verschlechterung der öffentlichen Gesundheit.

 

Ein wesentlicher Faktor des Wassernotstand ist der Bau großer Staudämme im Iran und in der Türkei, mit denen die Wasserressourcen im Irak erheblich eingedämmt werden. Besonders betroffen ist die Landwirtschaft im Irak, von der ein Drittel der Bevölkerung lebt. Ein Großteil der Landbevölkerung emigrierte aufgrund der verschlechterten Versorgungslage in die Vororte größerer Städte der Region, wo sie in ärmlichen Verhältnissen leben. Infolge der großen Dürre der letzten Jahre versiegen Flüsse und es kommt immer häufiger zu Sandstürmen. So wurde in diesem Jahr die Anbaufläche für Weizen auf die Hälfte reduziert, womit die Selbstversorgung des Iraks, als einstmals großer Kornkammer, nicht mehr gewährleistet ist.

 

In dieser Situation nimmt die Person Al-Sadr eine widersprüchliche Rolle ein. Seine Partei ging mit 73 von 329 Sitzen als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor. Danach wandte er sich ausdrücklich gegen eine Einmischung in die Regierungsbildung durch die USA und den Iran, womit er an dem wachsenden antiimperialistischen Bewusstsein unter den Massen ansetzt, während er selbst Beziehungen zum Iran pflegte und mit ihm kooperierte. Er greift die grassierende Korruption im Irak an, womit er sich ein bestimmtes Ansehen unter den Massen, vor allem in den armen Stadtvierteln erkämpft hat. Er erhebt den Nimbus „ein Reformer“ zu sein und unterstützte über Monate die große Protestbewegung im Herbst 2019.

 

Unter dem Stichwort des „Anti-Sektierertums“ begann er seit 2011 und nach dem Abzug des Großteils der US-Truppen eine Zusammenarbeit von Schiiten, Sunniten, der revisionistischen Irakischen Kommunistischen Partei und anderen Gruppen zu fördern. Seine Popularität zieht er daraus, dass er offen für eine Zusammenarbeit der verschiedenen religiösen Gruppen und für ein Bündnis mit der sekulären Bewegung im Lande ist.

 

Im April 2016 rief Sadr seine Anhänger auf, an der Seite von Anhängern der Irakischen Kommunistischen Partei massive Demonstrationen zu starten, zur Bekämpfung der Korruption, insbesondere bei der Ernennung von Regierungspositionen. Im Vorfeld der Parlamentswahlen 2018 bildete Sadr die Allianz der Sairoon („Moving Forward“/“Vorwärtsbewegung“) und gründete die Istiqamah-Partei („Integrität“), in der die Irakische Kommunistische Partei, kleinere Parteien und soziale Gruppen, u.a. repräsentiert waren.¹ Sie versprach, die Korruption zu bekämpfen, den Staat zu reformieren und den Armen und der Arbeiterklasse zu helfen. Zugleich vertritt Al-Sadr eine reaktionäre Familienpolitik. Er ist tief in das Machtgefüge des irakischen Staates eingewoben und tritt für einen verstärkten irakischen Nationalismus ein, womit er versucht, den Protest in eigenständige kapitalistische Interessen des Irak und in parlamentarische Bahnen zu lenken.

 

Unter den irakischen Massen muss das Bewusstsein gestärkt werden, dass ein länderübergreifender antifaschistischer und antiimperialistischer Kampf notwendig ist, der mit einer sozialistischen Perspektive verbunden ist. Dazu muss der Aufbau einer marxistisch-leninistischen Partei vorangetrieben werden. Dem Kampf für Arbeit, Brot, Demokratie und Freiheit gehört unsere ganze Solidarität!