Dokumentiert

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Kritik der KPdSU an SED-Führung

KPdSU-Kritik an der SED-Führung vom Mai 1953 – Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik.

Infolge der Durchführung einer fehlerhaften politischen Linie ist in der Deutschen Demokratischen Republik eine äußerst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden. Unter den Massen der Bevölkerung, darunter auch unter den Arbeitern, Bauern und der Intelligenz, ist eine ernste Unzufriedenheit zu verzeichnen – in Bezug auf die politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, die in der DDR durchgeführt werden. Das kommt am deutlichsten in der massenhaften Flucht der Einwohner der DDR nach Westdeutschland zum Ausdruck. (…) Es fällt auf, dass sich unter den innerhalb der vier Monate 1953 nach Westdeutschland Geflüchteten 2718 Mitglieder und Kandidaten der SED und 2610 Mitglieder der FDJ befinden.

 

Als Hauptursache der entstandenen Lage ist zu erkennen, dass gemäß den Beschlüssen der II. Parteikonferenz der SED, die vom Politbüro des ZK der KPdSU gebilligt wurden, fälschlicherweise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland genommen worden war - ohne Vorhandensein der dafür notwendigen realen sowohl innen- als auch außenpolitischen Voraussetzungen. Die sozial-wirtschaftlichen Maßnahmen, die in Verbindung damit durchgeführt werden, und zwar die Beschleunigung der Entwicklung der schweren Industrie, die dabei keine gesicherten Rohstoffquellen hat, die jähe Einschränkung der Privatinitiative, die die Interessen einer breiten Schicht der nicht großen Eigentümer in Stadt und Land beeinträchtigt, und der Entzug der Lebensmittelkarten für alle Privatunternehmer und Freischaffenden, besonders die übereilte Schaffung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften ohne die dafür notwendige Grundlage im Dorfe, haben dazu geführt, dass auf dem Gebiet der Versorgung der Bevölkerung mit Industriewaren und Nahrungsmitteln ernste Schwierigkeiten entstanden sind. (…)

 

Die politische und ideologische Arbeit, die von der Führung der SED durchgeführt wird, entspricht nicht den Aufgaben der Stärkung der DDR. Insbesondere wurden ernste Fehler in Bezug auf die Geistlichen begangen, die in einer Unterschätzung des Einflusses der Kirche unter den breiten Massen der Bevölkerung in groben Administrierungsmaßnahmen und Repressalien ihren Ausdruck fanden. Als ein grober Fehler ist auch die Unterschätzung der politischen Arbeit unter der Intelligenz anzuerkennen. Dadurch erklären sich teilweise die in einem bedeutenden Teil der Intelligenz vorhandenen Schwankungen, die Unbeständigkeit, und daß sogar ein feindliches Verhalten zur gegenwärtigen Ordnung vorhanden ist. Das alles schafft eine ernste Gefahr für die politische Stabilität der DDR.

 

Zur Verbesserung der entstandenen Lage ist es notwendig:

 

  1. Unter den heutigen Bedingungen ist der Kurs der Forcierung des Aufbaus des Sozialismus in der DDR, der von der SED eingeschlagen wurde und vom Politbüro des ZK der KPdSU (B) in seinem Beschluss vom 8. Juli 1952 gebilligt worden war, als nicht richtig zu betrachten.
  2. Zur Gesundung der politischen Lage in der DDR und zur Stärkung unserer Positionen in Deutschland selbst, als auch in der Deutschlandfrage auf der internationalen Ebene und zur Sicherstellung und Ausbreitung der Basis der Massenbewegung für die Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedliebenden, unabhängigen Deutschlands ist der Führung der SED und der Regierung der DDR die Durchführung folgender Maßnahmen zu empfehlen:

    a) Die künstliche Ausbreitung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die sich in der Praxis nicht bewährt haben und die eine Unzufriedenheit unter den Bauern hervorgerufen, ist einzustellen. Alle bestehenden landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sind sorgfältig zu überprüfen und diejenigen, die auf einer unfreiwilligen Basis geschaffen worden sind oder die sich als lebensunfähig erwiesen haben, sind aufzulösen. (…)

    c) Die Politik der Einschränkung und Verdrängung des mittleren und kleinen Privatkapitals ist als eine vorzeitige Maßnahme aufzugeben. Zur Belebung des wirtschaftlichen Lebens der Republik ist es notwendig, eine breite Heranziehung des Privatkapitals in verschiedenen Zweigen der kleinen Gewerbeindustrie, in der Landwirtschaft sowie auch auf dem Gebiet des Handels für zweckmäßig zu halten, ohne dabei seine Konzentrierung in großem Ausmaß zu halten. (…)

    d) Der Fünfjahresplan der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR ist zu revidieren – in der Richtung einer Lockerung des überspannten Tempos der Entwicklung der Schwerindustrie und einer schroffen Vergrößerung der Produktion der Massenbedarfswaren und der vollen Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, damit es schon in der nächsten Zeit möglich ist, das Kartensystem der Versorgung mit Lebensmitteln zu liquidieren. (…)

    f) Maßnahmen zur Stärkung der Gesetzlichkeit und Gewährung der Bürgerrechte sind zu treffen, von harten Strafmaßnahmen, die durch keine Notwendigkeit hervorgerufen wird, ist abzusehen. (…)

    g) Die breite Entfaltung der politischen Arbeit unter allen Volksschichten bei entscheidender Ausrottung der Elemente des nackten Administrierens ist als eine der wichtigsten Aufgaben der SED zu betrachten. (…) Gegenwärtig und in der nächsten Zukunft muss im Mittelpunkt der Massen des deutschen Volkes sowohl in der DDR als auch in Westdeutschland die Aufgabe des politischen Kampfes für die Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands und für den Abschluss eines Friedensvertrages gestellt werden. (…) Die bisher durchgeführte Propaganda über die Notwendigkeit des Übergangs der DDR zum Sozialismus ist als unrichtig zu betrachten, da sie die Parteiorganisation in der SED zu unzulässig vereinfachten und hastigen Schritten sowohl auf dem politischen als auf den wirtschaftlichen Gebiet treibt. (…)

    h) Mit dem nackten Administrieren in Bezug auf die Geistlichen ist Schluss zu machen und die schädliche Praxis der groben Einmischung der Behörden in die Angelegenheiten der Kirche einzustellen. (…) Die Verfolgung einfacher Teilnehmer der kirchlichen Jugendorganisation ‚Junge Gemeinde‘ ist einzustellen und die politische Arbeit unter ihnen zum Schwerpunkt zu machen. (…) Als Grundform der antireligiösen Propaganda ist die weitere Verbreitung wissenschaftlicher und politischer Kenntnisse unter der Bevölkerung zu erkennen. (…)

  3. Der Hochkommissar der UdSSR in Deutschland, Genosse Semjonow, und der Befehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen, Genosse Gretschko, sind verpflichtet, die bestehenden Mängel in der Ausübung des Besatzungsregimes durch sowjetische Truppen zu beseitigen. Es sind Maßnahmen zu treffen, die gewährleisten, dass der Aufenthalt der sowjetischen Besatzungstruppen möglichst wenig die unmittelbaren Interessen der Zivilbevölkerung beeinträchtigt, insbesondere sind alle durch sowjetische Truppen besetzten Räume den Bildungsanstalten, Krankenhäusern und Kulturstätten freizumachen.
  4. Vom Standpunkt ausgehend, dass die politische und wirtschaftliche Lage in der DDR eine der wichtigsten Faktoren nicht nur in der Lösung der allgemeinen Deutschlandfrage, sondern auch in der friedlichen Regelung der internationalen Grundprobleme ist, sind in Zukunft bei der Bestimmung der gesamten politischen Linie für diese und jene Zeitperiode und bei der Durchführung jeder konkreten Maßnahme zur Stärkung der DDR streng die realen Bedingungen der DDR wie auch die Lage in ganz Deutschland und die internationale Lage zu berücksichtigen. (…)