Tunesien
Explosive Situation nach Absetzung der Regierung
Am 25. Juli gingen in Tunesien Hundertausende in allen Städten auf die Straßen. Darüber berichtet Nouri Bettoumi, Generalsekretär des Politbüros der Patriotischen Demokratischen Sozialistischen Partei (PPDS) Tunesien, die Mitglied der ICOR ist:
„Die Menschen gingen auf die Straße, um gegen die Islamisten und ihre Regierung zu protestieren und die schlimmste Wirtschafts-, Gesundheits- und Seuchenkrise seit Jahrzehnten anzuprangern. Die Massen griffen das Hauptquartier der islamistischen Regierungspartei an und protestierten bis auf wenige Zwischenfälle friedlich und ohne Opfer. Wenige Stunden danach traf sich der gewählte Präsident Kais Saeid mit hohen Militär- und Sicherheitsgenerälen.“
Es wurden folgende Entscheidungen getroffen: Einfrieren der Befugnisse des Parlaments für einen Monat, Aufhebung der parlamentarischen Immunität seiner Mitglieder, Entlassung der Regierung und Übernahme der Exekutive, Bildung einer neuen Regierung. Das Militär schloss das Parlament und den Sitz der Regierung.
Gesamtgesellschaftliche Krise
Seit Anfang des Jahres 2021 entwickelt sich in Tunesien eine gesamtgesellschaftliche Krise als Teil der beschleunigten Tendenz zur gesamtgesellschaftlichen Krise des imperialistischen Weltsystems. Immer wieder flammen Kämpfe der Arbeiter, der Jugend, Frauen, Lehrer und anderer Kräfte auf.
Die Arbeiterklasse spielt eine wachsende Rolle in den Kämpfen. Die Kampfformen wurden militanter: Demonstrationen, Besetzungen, Blockaden, Widerstandsmaßnahmen gegenüber dem gewaltsamen Vorgehen und Verhaftungen durch die Polizei. Seit April gibt es ein Verbot aller Arten von Versammlungen, was zu dem Slogan führte: „Gegen den Polizeistaat!“ Dennoch gingen immer wieder Hunderttausende auf die Straße.
Erdrückende Armut der Massen
Tunesien ist ein kleineres arabisches Land mit knapp 12 Millionen Einwohnern, einer relativ starken Arbeiterklasse und einer revolutionären Partei, der ICOR-Partei PPDS. 2011 läuteten Massenkämpfe dort eine länderübergreifende demokratische Volksbewegung ein. Die auf die Diktatur von Ben Ali folgende bürgerlich-parlamentarische Demokratie diente vor allem dem Mythos, dass es eine tatsächliche demokratische Wende gäbe.
Die aktuellen Proteste entzündeten sich an der immer schlimmeren Armut der Massen durch die Abwälzung der Lasten der Weltwirtschafts- und Finanzkrise und am Totalversagen der Regierung in der Corona-Pandemie. Jetzt ist das Gesundheitswesen an die Wand gefahren, die Krankenhäuser sind völlig überlastet. Tunesische Ärzte haben gegen den Kollaps des Gesundheitswesens Anfang Mai drei Tage gestreikt. Mit einer Todesrate von 3,28 Prozent der Infizierten (Deutschland: 2,4 Prozent) beklagt Tunesien 18.804 Tote. Vollständig geimpft sind erst 8 Prozent. Das ist eine Folge der Regierungspolitik, Schulen und Universitäten zu schließen, aber Betriebe und Gastronomie geöffnet zu lassen sowie religiöse Feste nicht einzuschränken.
Seit über einem Jahr ist der Tourismusbereich zusammengebrochen. Dieser war für viele junge Arbeiterinnen und Arbeiter eine Möglichkeit, wenigstens als Saisonbeschäftigte etwas zu verdienen. Durch die neokoloniale Abhängigkeit von IWF, Weltbank und der EU wird die Privatisierung von Betrieben und Wirtschaftsbereichen forciert. Die Folge für die Massen sind unter anderem Preissteigerungen.
Im Bericht der PPDS heißt es: „Gleich nach der Bekanntgabe dieser Entscheidungen gingen wieder Tausende von Menschen auf die Straße und drückten ihre Freude und Unterstützung für die neuen Entscheidungen aus. Auf der anderen Seite gehen die Islamisten und ihre Anhänger auf die Straße, um das Parlament und die Regierung zu unterstützen. Die UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail), der tunesische Gewerkschaftsdachverband, unterstützte die Entscheidungen des Präsidenten und rief dazu auf, die 'Verfassung', die Freiheitsrechte und die sozioökonomischen Rechte zu respektieren.“
Bewusstseinsbildung und höhere Organisiertheit entscheidend
Entscheidend wird sein, dass in den Auseinandersetzungen das Bewusstsein über den reaktionären Charakter des Ausbeutungssystems wächst und die Arbeiterklasse und Volksmassen sich eigenständig gegen die verschiedenen Strömungen der Herrschenden und deren Machtkämpfe positionieren und organisieren.
Die Patriotisch-Demokratisch-Sozialistische Partei "begrüßt in hohem Maß diese Massenoffensive des Volks und des Aufstands gegen die Schicht der Korruption und der reaktionären imperialistischen Stellvertreter, indem sie ihre kraftvolle politische Unterstützung auf diesem Gebiet zusichert. Sie unterstreicht ihre Unterstützung für die mutigen Entscheidungen des Präsidenten, die dem Willen des Volkes entsprechen, gegen seine Feinde von der reaktionären Rechten der imperialistischen Stellvertreter."
Wachsamkeit geboten
Die kämpferische und aktive Rolle der Massen und ihre klare Betonung ist zu begrüßen, während sie in vielen bürgerlichen Medien an den Rand gerückt wird. Es ist aber auch Wachsamkeit gegenüber möglichen Versuchen der Herrschenden geboten, die abgesetzte reaktionär-islamistische Regierung durch ein anderes reaktionäres, faschistoides oder faschistisches Regime zu ersetzen.
So geschah es im Iran nach dem Sturz des Schah 1979, als Chomenei eine faschistische Diktatur errichtete. Den Putsch des ägyptischen Präsidenten Abd al-Fattah as-Sisi 2013 begründete dieser mit dem Kampf gegen islamistische Faschisten, errichtete dann aber eine offene Diktatur.
"Den revolutionären Kampf fortsetzen"
Die PPDS "ruft die Parteiaktivisten und die Volksmassen auf, den Moment mit noch mehr Mobilisierung vor Ort und mit unerbittlichem Kampf gut zu nutzen, um die soziale Bewegung in Richtung der Zerstörung der Säulen des Stellvertreter-Imperialismus und des Korruptionssystems anzuheizen und zu eskalieren. Sie ruft die fortschrittlichen patriotischen Kräfte dazu auf, das Niveau der politischen Koordination, des Kampfes vor Ort, der Mobilisierung und der weiteren Sammlung auf dem Weg zum gemeinsamen Ziel, der nationalen und sozialen Befreiung, zu erhöhen."
Die PPDS spielt in den Kämpfen der Massen eine wichtige Rolle und muss weiter gestärkt werden - in Verbindung mit der Bewusstseinsbildung für die sozialistische Perspektive. Die Genossen berichten: „Die PPDS hat den Volksaufstand voll unterstützt und unsere Kämpfer waren mit den Menschen auf der Straße. Wir rufen jedoch dazu auf, den revolutionären Kampf für die nationale Emanzipation und soziale Freiheit und den Sozialismus fortzusetzen.“
Die weitere Entwicklung ist auch wichtig für die 2022 in Tunesien geplante Weltfrauenkonferenz der Basisfrauen. Wir werden weiter berichten.
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