Gedanken aus Lübeck:
Wer ist eigentlich systemrelevant?
Als Rentner beschleicht mich in letzter Zeit ein ungutes Gefühl: Bin ich systemrelevant oder gar systemirrelevant? Ähnlich geht es vielen anderen. Um von der Bundeskulturministerin eine finanzielle Hilfe zu bekommen, musste ein Lübecker Kindertheater kürzlich einen Nachweis erbringen, dass es systemrelevant ist. Musste das auch ein Großkonzern machen, der den Löwenanteil der „Staatshilfen“ bekommt?
Vor zehn Jahren erklärte Angela Merkel die Banken für „systemrelevant“. Das kam in der Bevölkerung nicht gut an, deshalb werden heute auch Pflegerinnen und Pfleger oder Verkäuferinnen für systemrelevant erklärt – ein deutliches Eingeständnis, dass ohne sie im Kapitalismus nichts laufen würde.
Mir leuchtet ja völlig ein, dass auch Polizisten, Richter, die bürgerlichen Medien, Minister Spahn und Joe Kaeser vom Siemens-Konzern systemrelevant sind. Ohne sie könnte das kapitalistische System nicht aufrecht erhalten werden. Damit auch die Bundeswehr als systemrelevant akzeptiert wird, servieren neuerdings in einigen Pflegeheimen Soldaten das Essen.
Dass Pflegekräfte als „Helden des Alltags“ herausgestellt werden, könnte vielleicht eine bessere Entlohnung ersetzen. Die 1000 Euro, die Pflegekräfte einmalig erhalten sollen, sind für die Lebenshaltungskosten nicht gerade relevant. Aber die Bezahlung ist offenbar Maßstab für die Systemrelevanz. Etwas systemrelevanter ist der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. Als Aufsichtsratsmitglied bei der Deutschen Bank bekommt er 200.000 Euro jährlich für diesen anstrengenden Nebenjob.
Zu den am meisten Systemrelevanten zählen die Familien Piech und Porsche als Miteigentümer von VW. Die streichen aktuell mal eben eine halbe Milliarde Euro Dividende ein. Mit deren Relevanz können Rentner natürlich nicht mithalten und deshalb wird die Grundrente schon wieder in Frage gestellt.
Wenn ich mir allerdings überlege, wer gesellschaftsrelevant ist, dann fallen mir sofort alle Industriearbeiterinnen und -arbeiter ein, die Kollegen in den Krankenhäusern, die Sozialarbeiter, Transportarbeiter, Handwerker, Friseurinnen und und und. Bloß die Kaesers, der ganze Regierungsapparat, Manager von Versicherungskonzernen und Hedgefonds, Börsenmakler und so weiter fallen mir partout nicht ein. Immerhin: Wenn sich ein Teil von ihnen im Sozialismus der Herrschaft der Arbeiterklasse fügt, könnten sie auch gesellschaftlich relevante Arbeit erlernen.
Und die Köchin, die das Regieren lernt, der Metallarbeiter, der ehrenamtlich eine Volksküche im Stadtteil mitorganisiert, Schauspieler, die kreativ und gemeinsam mit Kindern Theater spielen – sie alle sind systemrelevant für den Sozialismus. Als Rentner wäre uns dann auch nicht mehr bange, als überflüssig zu gelten. Könnten wir doch unsere Erfahrungen und unsere Kräfte gemeinsam mit der Jugend für den Nutzen der ganzen Gesellschaft einsetzen!